"Das Gehirn ist ein soziales Organ"

Das Leben hinter der Maske © Ellen Wagner

Hans-Jürgen Wirth © Psychosozialverlag

Was hat sich in den letzten Jahren stark verändert? Was sind die großen Themenfelder?
Hans-Jürgen Wirth: Insbesondere die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren einen enormen Boom erlebt und sind damit in gewisser Weise auch zur Leitdisziplin innerhalb der Psychologie geworden – was durchaus auch kritisch gesehen werden kann. Die Bedeutung des Sozialen für die Psychologie ist heute unumstritten. Das Gehirn ist ein soziales Organ und die Psyche des Menschen ist sozial und kulturell eingebettet. Hier liegt der Schwerpunkt unseres Verlags. Der Psychosozial-Verlag hat sich zum Ziel gesetzt, den Dialog zwischen den Psycho-, den Sozio- und den Kulturwissenschaften voranzutreiben.

Aktuell erscheinen bei Ihnen die ersten Bände der auf 23 Bände angelegten Sigmund-Freud-Gesamtausgabe. Was ist das besondere daran?
Hans-Jürgen Wirth: Unsere Sigmund-Freud-Gesamtausgabe ist die erste vollständige Sammlung von Freud-Texten, die alle von Sigmund Freud zur Veröffentlichung vorgesehenen Schriften enthält. Insbesondere die frühen Texte Freuds, die als "voranalytische Schriften" bezeichnet werden, sind in gedruckter Form so gut wie gar nicht erhältlich. Um die Entwicklung der Freudschen Theorie nachvollziehen zu können, sind aber gerade auch diese Texte wichtig.

Johann Wirth © Psychosozialverlag

In Ihrem Verlag erscheinen auch Publikationen zum Themenfeld Intersexualität sowie Sexualität und Geschlecht. Inwieweit ist das noch immer ein "Randthema"?
Johann Wirth: Psychologisch ist das Thema Sexualität und Geschlecht auf jeden Fall von herausragender Bedeutung, was gerade im Falle von Inter- und Transsexualität sehr deutlich wird. Hier geht es für die Betroffenen im Kern auch um Selbstbestimmung und Befreiung von Fremdzuschreibungen. Auf der anderen Seite ist es natürlich nach wie vor ein Randthema. Viele Leute wissen noch immer nicht, was Inter- und Transsexualität eigentlich sind. Wir widmen uns in unserer verlegerischen Arbeit sehr gezielt auch solchen Themen. 

Wie arbeiten Sie mit Buchhandlungen zusammen? Gibt es da eigene Büchertische, Lesungen oder andere gemeinsame Veranstaltungen?
Johann Wirth: Als Fachverlag ist es heutzutage schwierig, mit unserem Programm in allgemeine Sortiments-Buchhandlungen zu kommen. Das ist schade, denn wir haben zahlreiche Bücher im Programm, die sich auch an ein breiteres Publikum richten und von denen Buchhandlungen profitieren könnten. Aber es gibt natürlich auch Buchhandlungen, die ein sehr ausgeprägtes und anspruchsvolles Profil haben und an fachlich spezialisierten Lesungen interessiert sind. Wir kooperieren sehr eng mit einigen spezialisierten Buchhandlungen und richten gemeinsam Büchertische auf Fachkongressen aus.

Inwieweit sollen sich Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in den medizinischen Bereich vorwagen, etwa Erkenntnisse der Gehirnforschung in den eigenen Arbeiten berücksichtigen?
Johann Wirth: Für Psychologen und Psychotherapeuten spielen humanbiologische und medizinische Kenntnisse eine wichtige Rolle, und als Psychotherapeuten arbeiten ja sowohl Ärzte als auch Psychologen. Neben medizinischen und biologischen Aspekten spielt aber auch das Soziale eine ganz entscheidende Rolle für die Psyche. Aus meiner Sicht sind für Psychotherapeuten und Psychiater sozialwissenschaftliche, historische und kulturwissenschaftliche Kenntnisse ebenso wichtig wie medizinisch-biologische.

Wenn man Psychologie und Psychotherapie als Erkenntnisverfahren betrachtet, dann gibt es auch eine Nähe zur Philosophie – zumindest sehen das einige Autoren so.
Hans-Jürgen Wirth: In unserem Verlagsprogramm haben theoretische Ansätze einen zentralen Platz, die den Anspruch haben, grundsätzliche Erkenntnisse über die Natur des Menschen und sein Verhältnis zur Gesellschaft zu liefern. Gerade interdisziplinär ausgerichtete Theorien behandeln auch solche Fragen, die klassischerweise der Philosophie zugeschrieben wurden. Für die Psychotherapie haben die mit den Theorien verbundenen Menschenbilder durchaus auch praktische Relevanz – auch dort, wo sie nicht explizit behandelt werden.

Interview: Andreas Trojan

Im aktuellen Börsenblatt Spezial Fachbuch (18 / 2015) lesen Sie einen Artikel von Andreas Trojan über Thementrends in Programmen von Psychologie- und Psychiatrie-Fachverlagen. Zum E-Paper.

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