Das Bett bleibt zu lange leer

Für das «British Medical Journal» ist die Sache schon lange klar, schon sehr lange. In einem Editorial aus dem Jahr 1894 schreibt ein Autor: «Die Hetzerei und Nervosität des modernen Lebens werden völlig zu Recht für das grosse Ausmass der Schlaflosigkeit verantwortlich gemacht.»

Auch wenn sich das «moderne Leben» inzwischen verändert hat, die Sorge um den Schlaf ist geblieben. Heute schlafen Schweizerinnen und Schweizer im Durchschnitt 38 Minuten weniger als noch vor gut 30 Jahren. Dies hat eine repräsentative Befragung von Forschern der Universitäten Basel und Zürich ergeben, die im vergangenen November in der «Therapeutischen Umschau» veröffentlicht wurde. Werktags beträgt heute die mittlere Schlafdauer 7,5 Stunden und an freien Tagen 8,5 Stunden. Das ist eine halbe Stunde mehr als in ähnlichen Umfragen aus Frankreich, Grossbritannien und den USA.

Das Phänomen der sich verkürzenden Schlafdauer reicht allerdings weiter zurück als 30 Jahre. Australische Forscher um Lisa Anne Matricciani von der University of South Australia in Adelaide schätzen, dass Kinder und Jugendliche rund eine Stunde weniger schlafen als noch vor 100 Jahren. Nicht geändert hat sich seit dieser Zeit die Überzeugung, dass Kinder zu wenig schlafen, wie die Autoren 2012 in ihrer im Fachblatt «Pediadrics» veröffentlichten Literatur­recherche schreiben. Während heute Fernseher, Computer oder Gameboy für weniger Schlaf verantwortlich gemacht werden, waren es vor hundert Jahren die Glühbirne und das Lesen von Büchern. Interessanterweise verringerte sich die empfohlene Schlafdauer für Kinder und Jugendliche über die Jahre ähnlich schnell wie die tatsächliche und lag fast immer rund 30 Minuten höher.

Müde sind risikofreudiger

Trotz der alten Sorgen und stetig neuer Empfehlungen ist chronischer Schlafmangel kein Phantom. Christian Baumann, Leiter der Parkinson- und Schlafforschung an der Klinik für Neurologie des Universitätsspitals Zürich, trifft immer wieder auf Patienten, die unter ­anhaltend starker Tagesschläfrigkeit leiden. «Wenn sie dann nach zahlreichen aufwendigen Abklärungen bei uns landen, stellt sich nicht selten heraus, dass sie einfach schlicht zu viel unterwegs sind und zu wenig schlafen», sagt der Neurologe.

Doch das Problem betrifft nicht nur extreme Einzelfälle. «Wahrscheinlich schlafen wir fast alle zu wenig», ist Baumann überzeugt. Kinder, Job und vor allem bei Jugendlichen das Sozialleben führten zu chronischem Schlafentzug, einem «Social Jetlag». «Es gehört zum guten Ton, Kurzschläfer zu sein, entsprechend gibt es fast keine Chefs, die sagen, dass sie viel Schlaf brauchen.» Wer wenig Schlaf braucht, gilt als besonders leistungsfähig. Ein Fehlschluss, denn unter dem Strich überwiegen die negativen ­Effekte, ist sich Baumann sicher.

Das Ausmass der unerwünschten Folgen zeichnet sich allerdings erst in jüngerer Zeit ab. «Zu kurzzeitigem Schlafentzug ist viel geforscht worden, beim dauerhaften Mangel stecken wir hingegen am Anfang», sagt Baumann. Der Neurologe ist Direktor des klinischen Forschungsschwerpunkts «Sleep and Health» der Universität Zürich, welcher sich unter anderem mit dieser Wissenslücke beschäftigt. Zusammen mit Neuroökonomen um Christian Ruff untersucht Baumann zum Beispiel das Risikoverhalten bei Studenten, die über längere Zeit zu wenig schlafen. Die Probanden ­tragen während fünf Tagen einen sogenannten Aktigrafen, ein Messinstrument, welches wie eine Armbanduhr am Handgelenk getragen wird. Es zeichnet die Aktivität des Trägers auf und lässt so Schlüsse auf die Schlafdauer zu. Anschliessend vermessen die Forscher das Schlafverhalten der Studenten während dreier Tage und Nächte im Schlaflabor. Für die Bestimmung des Risikoverhaltens kommen dann Computerspiele zum Einsatz, welche testen, inwieweit Probanden bereit sind, finanzielle Risiken einzugehen. «Unsere Experimente bestätigen, dass wir bei chronischem Schlafmangel höhere Risiken in Kauf nehmen», sagt Baumann. Hinter so manchem gewagten Finanzentscheid oder heiklen Vertrag dürften also wohl chronisch übermüdete Entscheidungsträger stecken.

Schlaf und Demenz

Eine andere Studie zeigte, dass chronischer Schlafmangel die Reaktionsgeschwindigkeit beeinträchtigt. Probanden, die täglich neun Stunden schliefen, schnitten in entsprechenden Tests über eine Woche konstant gleich gut ab. Bereits mit sieben und weniger Stunden pro Tag sank die Reaktionsfähigkeit im Laufe der Woche. Bekannt sind auch ­negative Effekte auf den Stoffwechsel durch ein dauerndes Schlafdefizit. Neben Bewegungsmangel und Überer­nährung gilt der soziale Jetlag als Mit­verursacher des vermehrten Übergewichts in der Bevölkerung.

Forscher vermuten auch Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung in der Kindheit und Jugend, aber auch im ­Erwachsenenalter. So fand eine Studie im Fachblatt «Neurology» unlängst, dass Kurzschläfer seltener an Demenz erkranken. «Es ist allerdings unklar, was Ursache und was Wirkung ist», schränkt Baumann ein. Vielleicht schützt wenig Schlaf vor Demenz, vielleicht sind aber Betroffene mit Veranlagung zu Demenz auch schläfriger. In Tierexperimenten zeigt sich jedenfalls, dass mehr Schlaf vor Demenz schützen kann. Baumann und Kollegen untersuchen nun im Falle der Parkinsonerkrankung, ob der Verlauf der neurodegenerativen Erkrankung beeinflusst wird, wenn Schlafdauer und -qualität verändert werden. «Ob gesund oder krank, auf lange Sicht ist es sicher klüger, genügend zu ­schlafen», rät Baumann.

Am Samstag 17. Januar, 10 bis 16 Uhr, findet am Unispital Zürich ein öffentlicher Anlass zum Thema Schlaf mit verschiedenen Referenten der Universität Zürich statt. Moderation: Elke Heidenreich. www.sleep.uzh.ch/public (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 14.01.2015, 23:21 Uhr)

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