Charttechnik: Kurven, Kerzen, Kaufsignale

von Sven Parplies und Karen Szola, Euro am Sonntag

Wohl jeder Börsianer kennt die Investorenlegende Warren Buffett, aber keiner kennt Muneshia Homma. Überraschend ist das nicht, denn Muneshia ist seit über 300 Jahren tot. Dennoch sind die Weisheiten des japanischen Reishändlers lebendig. Mitte des 18. Jahrhundert schrieb Muneshia seine ­Beobachtungen über die Psycho­logie des Marktes nieder. Seine wichtigste Erkenntnis: Der Preis wird stark durch die Gefühlslage der Marktteilnehmer beeinflusst. Das kann ein Händler nutzen, indem er gegen den Trend agiert, also etwa auf steigende Preise setzt, wenn die Masse das ­Gegenteil erwartet.

Muneshia soll seinen Reichtum noch einer anderen Kunst verdankt haben: der Analyse sogenannter Kerzencharts. Schon seit dem 16. Jahrhundert haben Reishändler in Japan die Preisentwicklung täglich mit Akribie dokumentiert. Eine grafische Darstellung dieser Daten über längere Zeiträume zeigt einen Trend an, mit dessen Hilfe ein Händler angeblich abschätzen kann, ob der Preis künftig eher steigt oder fällt.

Während Muneshias Erkenntnisse zur Psychologie des Marktes auch dank prominenter Stimmen wie Warren Buffett allgemein anerkannt sind, hat die Chartanalyse einen schweren Stand unter Gelehrten. Der Nobelpreisträger Paul Samuelson verspottete sie einst als „esoterisches Hilfsmittel“.

Begeisterung und Verachtung haben dieselbe Ursache — die verblüffende Einfachheit der Charttechnik. Während Fundamentalisten mit ­hohem Aufwand Unternehmens­bilanzen wälzen, volkswirtschaft­liche Daten analysieren und anhand komplexer Modelle den „fairen Wert“ einer Aktie errechnen, schaut der Charttechniker einfach nur auf die Kurskurve. Dort sind nach seiner Überzeugung alle relevanten Informationen verarbeitet — selbst Wissen, das nur einem kleinem Insiderkreis vorbehalten ist, oder auch politische Einflussfaktoren. Der Charttechniker kann sich deshalb schnell eine Meinung zu Wertpapieren aus verschiedensten Branchen und Anlageklassen bilden. Auf Fundamentaldaten fokussierte Börsianer sind dagegen entsprechend ihres Fachwissens auf wenige Titel beschränkt.

„Der Techniker glaubt, dass nur das Resultat zählt, während Gründe oder Ursachen uninteressant sind. Der Fundamentalist hingegen muss immer wissen, warum etwas geschieht“, erklärt John Murphy in seinem Standardwerk „Technische Analyse der Finanzmärkte“ das Grundverständnis seiner Zunft.

Charttechniker suchen vor allem nach klaren Trends. Vereinfacht gilt: Eine Aktie, die steigt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter steigen. Aktien, die fallen, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter fallen. Charles Dow, Mitbegründer des berühmten Aktienindex Dow Jones, hat Ende des 19. Jahrhunderts den Trend einer Aktie mit den Gezeiten verglichen: Wenn das Wasser mit ­jeder neuen Welle weiter an den Strand klettert, ist Flut; zieht sich das Wasser mit jeder neuen Welle ­zurück, herrscht Ebbe.

Die Gezeiten der Finanzmärkte sind natürlich schwerer zu berechnen als der regelmäßige Rhythmus der Weltmeere. An den Börsen können Flut und Ebbe wenige Tage dauern, aber auch viele Jahre. Die größ-
te Herausforderung für Anleger besteht darin, die Wendepunkte rechtzeitig zu erkennen. Denn genauso wie eine Flut irgendwann in Ebbe übergeht, bricht irgendwann der Trend einer Aktie oder Währung.
Kompliziert wird die Sache dadurch, dass nicht jede Kurskorrektur automatisch einen Trendbruch darstellt. Schließlich ziehen sich während einer Flut die einzelnen Wellen immer wieder ins Meer zurück, nur um dann mit dem nächsten Vorstoß noch weiter an den Strand vorzudringen. Kleine, vom Wind ausgelöste Bewegungen auf der Wasseroberfläche wiederum haben überhaupt keine Bedeutung für die Richtung der Gezeiten. Entsprechend ist nicht jede Kursfluktuation einer Aktie von Bedeutung.

Das VW-Wunder
Charttechniker haben eine Reihe von Chartbildern ausgemacht, die nach ihrer Einschätzung einen Trendwechsel ankündigen, etwa den Bruch von Widerstandslinien. Ein Widerstand entsteht, wenn der Kurs eines Wertpapiers mehrmals auf ein bestimmtes Kursniveau gestiegen, dort aber stets unter Verkaufsdruck geraten ist. Je häufiger dieser Widerstand bestätigt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Anleger die Marke zum Verkauf nutzen. Sollte der Kurs schließlich doch das Kursniveau des Widerstands durchbrechen, ist das im Sinne der Charttechnik ein klares Kaufsignal, also ein Trendbruch. Widerstandslinien sind bei Anlegern beliebte Orientierungsmarken für Stoppkurse.


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Ein Triumph für Charttechniker war die Rekordrally der Volkswagen-Aktie im Jahr 2007. Das Papier war nach allen Bewertungskennziffern maßlos überteuert. Fundamental argumentierende Analysten rieten daher nahezu geschlossen zum Verkauf. Was die Gelehrten nicht wussten oder unterschätzt hatten: Im Hintergrund tobte eine erbitterter Machtkampf zwischen Porsche und Volkswagen, der die Nachfrage nach VW-Aktien so extrem verzerrte, dass Bewertungskennziffern keine Rolle mehr spielten. Der Kurs kletterte in der Spitze auf 999 Euro.

Die Hintergründe des Kurs­wunders dürften auch die Charttechniker nicht vollkommen durchschaut haben. Das aber war in ihrer Wahrnehmungswelt egal — die Tatsache, dass die Aktie wichtige Wider­stands­linien nach oben durchbrochen hatte, reichte als Kaufsignal.

Fundamentale Kritik
Erfolgserlebnisse wie im Fall VW können Kritiker nicht überzeugen. Zentraler Vorwurf an die Charttechnik: Die Kurvendeuter betrachten ­lediglich die Vergangenheit. Die aber besitze keine Aussagekraft für die Zukunft und sei deshalb nutzlos. Tatsächlich fällt auf, dass Chart­techniker zwar anschaulich frühere Kursbewegungen erklären können, oft aber sehr schwammige und unterschiedliche Meinungen vertreten, wenn es um die Zukunft geht, also um den für Anleger relevanten Zeitraum.

Wenn Charttechnik erfolgreich sei, dann höchstens im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, sagen die Kritiker. Sobald ge­nügend Anleger eine willkürliche ­Bewegung im Kurs im Sinne der Charttechnik als Kaufsignal interpretieren, treiben sie die Aktie nach oben und locken dadurch neue Käufer an. Dieser Effekt kann nach Ansicht der Fundamentalisten aber nur kurzfristig wirken, da die künstliche Nachfrage zu einer Überbewertung führt und deshalb unweigerlich Verkaufsdruck heraufbeschwört.

Hokuspokus oder magische Gewinnformel? Murphy führt an, dass sich die von Charles Dow aufgestellte Theorie bei der Identifizierung primärer Bullen- und Bärenmärkte bewährt habe. Er vermerkt aber auch, dass Anwender dieser Theorie im Schnitt die ersten 20 bis 25 Prozent einer Bewegung verpassten.

Die Finanzwissenschaftler Scott Irwin und Cheol-Ho Park wollten es genauer wissen und haben im Jahr 2007 die Ergebnisse mehrerer Studien zur Technischen Analyse ausgewertet. Demnach machten 56 von 95  Untersuchungen einen positiven Effekt aus, 20 einen negativen, und 19 erbrachten gemischte Resultate. Allerdings schränken die Autoren ein, dass viele der Studien methodische Defizite aufweisen.

Trotz offener Fragen haben viele Banken und Fondsgesellschaften die Charttechnik als hilfreiche Analysemethode anerkannt und beschäf­tigen eigene Technische Analysten. In der Praxis dürften sich Chart­technik und Fundamentalanalyse wohl ergänzen.

Fundamentalisten, die beispielsweise in der Börseneuphorie der 90er-Jahre scharfsinnig errechnet hatten, dass die meisten Aktien am Neuen Markt maßlos überbewertet waren, hatten recht. Genutzt hat ihnen diese Erkenntnis nichts, da die Kurse weiter stiegen. Das Ende der historischen Kursrally wurde von Charttechnikern präziser voraus­gesagt als von Fundamentalisten: Im März 2000 identifizierten Erstere beim Nemax ein sogenanntes Doppeltop — zwei Kursspitzen, denen ein starker Kurseinbruch folgte. Das gilt als klassisches Verkaufssignal.

Die Bodenbildung des DAX im vergangenen Herbst bei 5000 Punkten wiederum deckte sich mit den ­Voraussagen beider Lager. Während die einen bei dieser Marke eine wichtige Unterstützungslinie erkannten, hatten die anderen dort den Buchwert des Index aus­gemacht. Der hatte sich schon in ­früheren Kurskrisen als gute Einstiegsgelegenheit für ­Anleger bewährt.

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