Bund senkt Hürden für die Psychotherapie

19. Februar 2012, NZZ am Sonntag

Auch selbständige Psychologen Therapiestunden über Grundversicherung abrechnen können

Pro Jahr besuchen rund 5 Prozent der Schweizer Bevölkerung einen Psychiater oder einen Psychologen. (Bild: Imago)

Der Bund will auf nächstes Jahr den Zugang zu nichtärztlicherPsychotherapie vereinfachen. Kritiker befürchten Mehrkosten für die Grundversicherung.

Fabian Fellmann

Psychologen ohne Medizinstudium sollen ab nächstem Jahr Psychotherapien selbst bei der obligatorischen Grundversicherung abrechnen dürfen. Bis heute geht das nur, wenn sie als Angestellte und unter Aufsicht eines Arztes arbeiten. Sonst müssen die Patienten die Therapie selbst bezahlen oder eine Zusatzversicherung abschliessen.

Diese Fesseln will der Bundesrat nun lockern. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bereitet die Grundlagen dafür vor, wie Vizedirektor Stefan Spycher bestätigt: «Im Zentrum steht das Anordnungsmodell.» Ein Arzt schickt den Patienten zum Psychologen, dieser rechnet selbst bei der Krankenkasse ab. Dieses System gilt heute schon für die Physiotherapie. Entscheiden kann der Bundesrat darüber in Eigenregie. «Wir klären aber auch ab, ob Psychotherapeuten als selbständige Leistungserbringer gelten sollen», sagt Spycher. Dann könnten Patienten direkt zum Psychologen gehen, ohne Umweg via Arzt. Dafür wäre eine Gesetzesänderung durch das Parlament nötig.

Anlass für die Neuerung ist das neue Psychologieberufegesetz. Ab 2013 werden damit erstmals schweizweit gesetzliche Standards eingeführt, wer sich Psychologe nennen darf. Bis heute ist diese Bezeichnung nicht geschützt.

Jeder Zehnte braucht Therapie

Das BAG vertritt die Meinung, die Schweizer erhielten zu wenig Psychotherapie. «Es finden zu wenig Therapien statt angesichts dessen, was therapiert werden müsste», sagt Spycher. Laut Nationalem Gesundheitsbericht gehen jährlich 5 Prozent der Bevölkerung zur Psychotherapie, nötig hätten es rund 10 Prozent. Laut Schweizerischer Gesundheitsbefragung 2007 litten 4 Prozent der Bevölkerung unter hoher psychischer Belastung, nur ein Drittel von ihnen liess sich behandeln. 13 Prozent der Bevölkerung gaben eine mittlere Belastung an, nur jeder Zehnte von ihnen ging zur Therapie.

Die Mehrheit der psychologischen und psychiatrischen Leistungen erbringen heute Ärzte: Die schweizweit rund 2300 Psychiater und psychologischen Fachärzte verrechnen rund drei Viertel der Taxpunkte für Psychiatrie. Auf die 4000 nichtärztlichen Psychotherapeuten entfällt mit den heutigen Einschränkungen nur ein Viertel.

Mehr Psychotherapeuten erhöhten aber die Kosten im Gesundheitswesen, sagt Felix Schneuwly, Head of Public Affairs beim Internetvergleichsdienst Comparis und früher für Psychologen- und Krankenkassenverbände tätig. Das gelte für jeden neuen Leistungserbringer, «der mit staatlich garantierten Preisen ohne Mengenbeschränkungen zulasten der Grundversicherung abrechnen darf» – anders als bei Managed Care, bei der die Leistungserbringer Globalbudgets erhalten, statt einzelne Leistungen abzurechnen. Ähnlich argumentiert der Krankenkassenverband Santésuisse: «Viele psychische Störungen erfordern gar keine psychotherapeutische Behandlung», sagt Sprecherin Silvia Schütz. Santésuisse würde eine Änderung entschieden bekämpfen. «Es liegt auf der Hand, dass ein erheblicher Kostenanstieg die Folge wäre», sagt Schütz.

Verlässliche Zahlen dazu gibt es indes nicht. Frühere Studien schätzten die Mehrkosten je nach Modell auf 100 bis 500 Millionen Franken jährlich, allerdings ist die Datenbasis schmal. Laut einer Hochrechnung des Bundesamts für Statistik fliessen ausserhalb der Grundversicherung jährlich über 200 Millionen Franken für Psychotherapie. Die Summe in der Grundversicherung ist nicht bekannt. Die Föderation der Psychologinnen und Psychologen hat die Brisanz der Kostenfrage erkannt: «Wir planen eine Erhebung, damit wir verlässlichere Angaben zu den Kostenfolgen haben. Wir gehen davon aus, dass die Neuregelung nicht zu höheren Kosten führt», sagt Geschäftsleiterin Verena Schwander.

Entscheidend für die finanziellen Folgen in der Krankenversicherung seien im Wesentlichen zwei Faktoren, sagt BAG-Vizedirektor Spycher. Es komme zum einen auf das Ergebnis der Tarifverhandlungen zwischen Santésuisse und den psychologischen Psychotherapeuten an. Dadurch werde bestimmt, wie sich der Preis gegenüber der heutigen, delegierten Form entwickelt. Zum anderen spiele es eine Rolle, wie viele der Patienten von heute selbständig tätigen Psychotherapeuten neu via Fachärzte Anspruch auf Leistungen der Grundversicherung erhielten.

«Mit dem heutigen System ist niemand glücklich», sagt Heidi Aeschlimann, Präsidentin des Schweizerischen Berufsverbands für Angewandte Psychologie. «Die delegierte Psychotherapie unter Aufsicht eines Arztes verursacht administrative Umtriebe, Kompetenzstreitigkeiten und oft Ausbeutung von Psychologen.» Sie will nicht von Mehrkosten reden: Richtig eingesetzte Psychotherapie könne andere Krankheitskosten vermeiden helfe. Für die Psychologen-Föderation ist die Lockerung nur ein erster Schritt. «Längerfristig würden wir begrüssen, wenn Psychologen den Ärzten gleichgestellt würden. Aber realistisch und pragmatisch ist derzeit, dass ein Arzt eine Psychotherapie anordnen muss», sagt Verena Schwander.

Psychiater sind gespalten

Die Ärzte sind gespalten angesichts der neuen Selbständigkeit der Psychologen. «Der Verband der Psychiater ist mehrheitlich dafür», sagt Christian Bernath, Präsident der Schweizerischen Ärztegesellschaft für delegierte Psychotherapie. «Aber es besteht eine gewisse Angst vor Dumpingpreisen, falls die Psychologen zu tieferen Tarifen arbeiten.» Die Zahl der Psychiater sei jahrelang über den Zulassungsstopp beschränkt worden. «Psychologen hingegen gibt es unheimlich viele, die alle auf den Markt drängen werden. Darum muss man die Versorgung steuern», sagt Bernath. «Wir haben Angst, dass die Kosten für Psychotherapie explodieren.» Eine mögliche Folge wäre, dass die Psychotherapie unter politischem Druck ganz aus der Grundversicherung gekippt würde – und hinter den heutigen Standard zurückfiele.



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