Bitte weniger! Und einfacher! Minimalismus ist Kult

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12. Oktober 2015 14:28 Uhr

Psychologie

Könnten Sie Ihren gesamten Besitz auf 100 Dinge eindampfen? Der Alltagsstress weckt bei vielen Menschen den Wunsch nach Reduktion, die die Psyche prompt entlastet.


  1. Blauer Himmel und Sand an den Füßen, arg viel mehr braucht es manchmal gar nicht, um sich gut zu fühlen. Foto: dpa


  2. Lebt ohne Handy und PC: der österreichische Schauspieler und Autor Roland Düringer Foto: Herbert P. Oczeret

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Könnten Sie abschätzen, wie viele Dinge Sie aktuell besitzen? Inklusive all der Dinge auf dem Dachboden und im Keller, die längst aus dem Blickfeld verschwunden, aber immer noch da sind? Wahrscheinlich würden Sie die Anzahl der Besitztümer, die sich im Laufe des Lebens angesammelt haben, stark unterschätzen – so wie die allermeisten Menschen der modernen westlichen Welt nämlich besitzen auch Sie wahrscheinlich viel mehr Dinge als zum Überleben eigentlich nötig sind. Der amerikanische Blogger Dave Bruno fühlte sich davon so belastet, dass er The 100 thing challenge ersann: die Aufgabe, seine gesamte Habe auf nur noch 100 Dinge zu reduzieren. Übrig blieben unter anderem Gitarre und ein Surfbrett.

Seine freiwillige Askese findet auch in Deutschland Nachahmer. Minimalismus ist Kult, und seine Anhänger haben bereits einen Namen: Lovos – Lifestyle of voluntary simplicity. Sie nennen sich Minimalisten, Downsizer, Simplifyer, immer geht es darum, sich im ständig wachsenden Überfluss auf das wirklich Notwendige zu beschränken und freiwillig einen einfacheren Lebensstil zu praktizieren. Ein Meister dieser Disziplin war, lange bevor das Bloggen erfunden war, Mahatma Gandhi. Der nämlich besaß abgesehen von seinem Gewand nur fünf Dinge: Brille, Taschenuhr, Sandalen, Teller, Schüssel. Weder annehmen, noch besitzen, was man nicht wirklich zum Leben braucht, lautete sein Motto.

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Nur: Wie viele Dinge sind das eigentlich – 100, 50 oder reichen doch fünf? Was, wenn sich jemand nur inmitten von Tausenden Dingen wohl fühlt und bereits der Gedanke an Verzicht auf jeden Nippes Stress auslöst? Wann wissen wir, dass es genug ist? Und wie schafft man es, in dieser Situation nicht nur die Notbremse zu ziehen, sondern den Rückwärtsgang einzulegen und Überfluss wieder zu reduzieren?

Für das seelische Wohlbefinden, darauf deuten Studien hin, ist dieser Versuch auf jeden Fall ein Gewinn. Sie zeigen, dass wachsender materieller Wohlstand und die immer größere Auswahl an Konsumprodukten die Psyche eher belasten und sogar überfordern, anstatt sie zu bereichern.

Das Easterlin-Paradox, benannt nach einer Studie des US-Forschers Richard Easterlin, besagt, dass steigendes Einkommen nur bis zu einem bestimmten Punkt mehr Lebensglück schafft. Sind die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt, stagniert die Glückskurve und geht dann, weiter steigendem Einkommen zum Trotz, sogar leicht zurück. So hat sich etwa in Japan das durchschnittliche Einkommen in den letzten 60 Jahren vervierfacht, das Glücksempfinden der Menschen blieb jedoch konstant. Und auch eine Studie des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften Gesis zeigt die Grenzen dieses Glücklichmachers: Die Lebenszufriedenheit durch Konsum erhöht sich nicht linear, sondern nimmt mit steigenden Ausgaben tendenziell wieder ab.

Eine Erklärung lieferten kürzlich Forscher um Eugenio Proto von der Universität Warwick. Laut der Studie liegt die Ursache für die Glücksstagnation in den Erwartungen, die das steigende Einkommen schafft: "Mit höherem Einkommen wachsen die Erwartungen an noch mehr Wohlstand. Und eine Lücke zwischen diesen Erwartungen und dem tatsächlichen Einkommen nehmen wir negativ wahr. Das mindert die Lebenszufriedenheit und verhindert den weiteren Anstieg des Glückslevels", erklärt Proto. Eine interessante Nebenerkenntnis der Gesis-Studie war übrigens, dass ein niedriges Konsumniveau, das nicht aus der Not geboren, sondern auf freiwilligem Verzicht basiert, die Zufriedenheit nicht negativ beeinflusst.

Eingespannt ins Räderwerk der Wirtschaft, die uns das Glück von materiellem Konsum systematisch überschätzen lässt, bleibt offenbar verborgen, dass immer mehr Produkte nicht immer mehr Zufriedenheit produzieren können. Nicht zuletzt wegen des Gewöhnungseffekts gibt es kaum noch Steigerungen des Glücksempfindens. Aus solchen Gründen, aber vor allem auch mit Blick auf Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch diskutieren Wirtschaftsexperten das Thema Suffizienz in letzter Zeit intensiver. Wie ist Wirtschaft ohne Zwang zu weiterem Wachstum denkbar, und wie lässt sich unter den gegenwärtigen Bedingungen Suffizienz als Ziel erreichen?

Der ständige Drang nach immer Mehr belastet nicht nur die Umwelt, sondern auch die Psyche der Menschen, die in diesen Tretmühlen stecken. Die Nachfrage nach Aufräum- und Simplify-Coaches boomt. So kommt, wie Psychologen beobachten, der Konsumstress zu anderen Stressquellen in Arbeit, Freizeit und Familienleben hinzu. Menschen vor allem in der Mitte der Gesellschaft wollen zunehmend aus diesem Dauerstress aussteigen. Vor allem Personen mit hoher Reflexionsbereitschaft merken, dass sie aus dem Hamsterrad des Immer-Mehr raus müssen. Sie entrümpeln den Alltag und fahren ihren Konsum zurück.

Dass dieses Zuviel an Dingen Stress auslöst, beobachten Psychologe und Coaches immer wieder. Belastend wirken die sogenannten "daily hassles", kleine, fast unmerkliche Ärgernisse, Mikro-Stressoren, die sich täglich wiederholen. Man findet im Chaos des Zuviels wichtige Dinge nicht oder kann Räume nicht mehr nutzen, weil sie vollgestellt sind. Nach dem Aufräumen und Entrümpeln sind die Betroffenen meist erleichtert.

Der Schritt hin zum bewussten Weniger an Besitz, Ansprüchen, Erwartungen und Statussymbolen für mehr Lebensqualität hat allerdings noch mehr Facetten. Anregungen findet man bei Menschen, die dieses Experiment erfolgreich unternommen haben. Ein Renner auf dem Buchmarkt sind Lebensgeschichten von Autorinnen und Autoren, die dem Alltagsüberfluss den Kampf ansagten. Judith Levine, die ein Jahr lang auf Konsum verzichtete, John Lane, der seit Jahren ein einfaches Leben auf dem Land führt oder eben der 100-Dinge-Blogger Dave Bruno ließen die Öffentlichkeit Anteil haben an ihren Selbstversuchen.

Der österreichische Schauspieler und Autor Roland Düringer setzte sich das Ziel, auf alles zu verzichten, was er in seiner Kindheit in den 1970er Jahren auch nicht besessen hat, das heißt: ein Leben ohne Handy, Kreditkarte, Fernseher, Supermärkte und Computer. So reagierte er auf das Gefühl totaler Überforderung im modernen Konsumalltag, dem er zuvor mit immer schnelleren und teureren Autos und anderen Statusprodukten erlegen war: "Dass auch ich früher immer mehr wollte, führte dazu, dass ich mich nicht mehr wohl fühlte. Ich war einfach überfordert." Die rasende Beschleunigung des Alltags erlebte er als eine "vom Sinn abgekoppelte Entwicklung".

Sein neues Leben empfindet er nicht als Verzicht, sondern als Bereicherung: Nicht nur die Befreiung von Statussymbolen wie Auto oder Handy helfen, selbst allgegenwärtige Genussmittel wie Kaffee schränkt er heute radikal ein: "Damit wird dieser Genuss zu etwas Besonderem. Es wird zu einem Geschmackserlebnis der besonderen Art", erzähl er. Seltener, dafür intensiver genießen. Nachahmern rät Düringer, sich genau zu überlegen, wie und worauf man verzichten möchte und möglichst keine fertigen Konzepte zu übernehmen: "Es geht nicht darum, dass uns jemand anderes die Regeln aufbrummt, sondern dass wir selbst gründlich entscheiden, wie wir gewisse Dinge benutzen und wie nicht." Nur so könne man herausfinden, was einem wirklich wichtig ist.

Der Journalist Leo Babauta schlug einen ähnlichen Weg ein: "Unser Körper und unsere Psyche sind für ein langsameres Leben gemacht", argumentiert er. "Wir leben grenzenlos und können mit dem Stress, der dadurch verursacht wird, alles tun und haben zu wollen, nicht umgehen. Das schwächt uns in so vieler Hinsicht." Er rät, sich selbst Grenzen zu setzen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, geistige, psychische wie materielle Ressourcen bewusst und sparsam zu nutzen. Dazu müsse man sich immer wieder klar machen, wo Ablenkung, Stressquellen und Verschwendung lauern.

So einfach und spielerisch solche Experimente wirken mögen, so schwierig ist Reduktion im Alltag oft umzusetzen. Aus der Sicht von Psychologen führt der Weg in ein entspanntes Weniger über drei Strategien für psychisches Wohlbefinden: Hedonismus, eine Sinnperspektive und persönliche Ziele. Sie machen stark und aktivieren wichtige Ressourcen gegen die Verlockungen der Konsumwelt.

Hedonismus: Anstatt immer mehr kaufen und besitzen zu wollen, kommt es darauf an, mehr Genuss und Sinnenfreuden aus Dingen und Erlebnissen zu ziehen. Dabei helfen zum Beispiel Seminare, die die Genussfähigkeit steigern, etwa zum Thema Slowfood. Studien zeigen, dass, wer ausreichend Geld zur Verfügung hat und es unbedingt ausgeben möchte, sich auf immaterielle Dinge konzentrieren sollte: Essen gehen, Konzerte besuchen, Hobbys ausleben, kurz, alles, was Genuss und schöne Erinnerungen produziert.

Ziele: Es hilft, sich Ziele zu setzen, bei deren Erreichung man positive Emotionen wie Freude und Stolz als direkten Gewinn erfährt, etwa einen Marathon zu laufen oder einen Garten anzulegen. Das trägt zum Wohlbefinden bei. Das hilft, dem Statuskonsum zu entkommen.

Sinn: Ziele mit und für eine Gemeinschaft eröffnen neue Sinnhorizonte. Ob in einer Gruppe, auf spiritueller Ebene oder auf der Suche nach dem eigenen, ganz individuellen Sinn – die Konzentration auf das Erleben von Sinn macht immun gegen den in der Konsumgesellschaft häufig erlebten Sinnverlust.

Beginnen wir also einfach irgendwo. Und vor allem: jetzt. Dann reduziert sich das Zuviel allmählich wie von selbst auf ein wohltuendes, immer noch absolut ausreichendes Maß.

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Autor: Eva Tenzer

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