Bald in aller Munde – Tages

Die Kauflächen sehen perfekt aus: weiss, glänzend, mit geschwungenen Fissuren und Höckern, kein Loch, keine Fül- lung – oder doch? «Die Inlays sind 20 Jahre alt und immer noch tadellos», sagt Werner Mörmann stolz. Das Bild von dem Gebiss des ehemaligen Patienten hat ihm kürzlich ein Kollege geschickt. Mörmann zeigt es auf seinem Computer. Der emeritierte Professor der Universität Zürich ist Pionier einer Technologie, die im Zentrum für Zahnmedizin ihren Anfang nahm, die offenbar lang anhaltende «bissfeste» Erfolge erzielt und die sich rasant weiterent­wickelt. So hat der 73-Jährige, der noch immer täglich ein paar Stunden in seinem Büro arbeitet, in diesem Jahr wieder eine neue Idee patentieren lassen.

Die Technologie, die nach und nach die Zahnarztpraxen erobert, stammt aus der industriellen Fertigung. Die automatisierten Abläufe haben Mörmann und seine Mitstreiter, darunter der bereits verstorbene Marco Brandestini, vor rund 30 Jahren auf die Zahnmedizin übertragen: Eine Kamera nimmt im Mund eines Patienten einen kranken Zahn auf. Die digitalen Bilder rechnet ein Computerprogramm in ein 3-D-Modell um. Die ­Daten werden an ein Gerät geschickt, eine Formschleifmaschine, die ein Inlay oder eine Krone nach den digitalen Angaben aus einem Block Keramik fräst.

Ausgeklügelte Software

Das Verfahren heisst computerunterstützte Gestaltung und Herstellung (Computer Aided Design und Computer Aided Manufacturing) oder kurz CAD/CAM-Technologie. Sie spart im Vergleich zu einer herkömmlichen Behandlung gleich mehrere Arbeitsschritte ein, die zum Teil unangenehm, langwierig und damit teuer sind. Bisher nimmt der Zahnarzt einen Zahnabdruck mit Silikonmasse, ein Zahntechniker fertigt da­raus ein Gipsmodell, dann ein Wachs­modell und schliesslich ein Inlay oder eine Krone aus Keramik. Massgefertigte Handarbeit.

Heute erleichtert eine ausgeklügelte Software die Arbeit. Albert Mehl, der Nachfolger von Mörmann, hat sie zusammen mit Kollegen entwickelt. Das Problem beim Zahnersatz ist – anders als bei standardisierten Bauteilen in der Industrie –, dass jeder Mensch einzigartige Zähne hat. Sie besitzen ein charakteris­tisches Muster auf den Kauflächen, dort, wo sich die Zähne von Ober- und Unterkiefer berühren. «Die Zähne sind so individuell wie das Gesicht», sagt Mehl.

Damit künstliche Zähne besser angepasst werden konnten, haben Mediziner im letzten Jahrhundert drei bis vier verschiedene anatomische Zahntypen mit ähnlichen Mustern definiert. Das ist ­unter anderem in einer kleinen Ausstellung zu sehen, die das Zentrum für Zahnmedizin anlässlich des 120-Jahr-Jubiläums der zahnmedizinischen Lehre zeigt. In den Schubladen eines Holzschranks lagern zahlreiche Prototypen. Das «Zahnlager» bot je nach Patient verschieden gestaltete Porzellanzähne an.

Heute ersetzt das sogenannte Bio­generikverfahren diese grobe Annäherung an die Zahnanatomie. Mehl und sein Team haben für das Computerprogramm mehr als 10 000 Morphologiemuster bei Testpersonen vermessen und daraus eine mathematische Beschreibung der Formen der Zahnoberflächen abgeleitet. Jetzt ist es möglich, die Oberfläche eines beschädigten oder abgebrochenen Zahns eines Patienten innerhalb von Minuten aus den Angaben seiner Nachbarzähne passend zu rekonstruieren. «Dies war für den Zahntechniker am Gipsmodell bisher ein zeitaufwendiger Prozess», sagt Mehl. Mit der Technik können Zahnärzte dem Patienten sofort den Zahn flicken, ein Provisorium ist nicht mehr nötig.

Vor allem die Kameras und die Bild- und Datenverarbeitung der CAD/CAM-Technologie haben in der Zahnmedizin in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Die erste Kamera, die Mörmann und Brandestini entwickelt hatten, war etwa so gross wie eine elektrische Zahnbürste. «Den CCD-Sensor für die Kamera holten wir im Silicon ­Valley ab», erinnert sich Mörmann an die 1980er-Jahre. Die Amerikaner wollten genau wissen, wozu die Zürcher das Präzisionsgerät benötigten. «Schliesslich hätte man das elektronische Bauteil auch für Waffensysteme nutzen können», lacht der Forscher. Die modernen Mundkameras sind nicht mehr ganz so handlich. Dafür können sie mehr, zum Beispiel liefern sie inzwischen farbige Aufnahmen.

Gipsgebiss ade

Demnächst wird zudem eine Scan­software für Kieferorthopäden auf den Markt kommen. «Man kann damit das gesamte Gebiss abbilden», sagt Mehl, der an der Entwicklung beteiligt war. ­Zukünftig ist eine Zahnspange am Bildschirm planbar, sind auch die Bewegungen der Kiefer zu sehen und wie die Zähne beim Kauen ineinandergreifen. Gipsgebiss ade. Bereits heute nutzen Zahnärzte die computerunterstützte Zahnmedizin, um beispielsweise chirurgische Eingriffe vorzubereiten, bei denen Implantate eingesetzt werden. «Für die ideale Planung benötigen wir mehrere digitale Datensätze, zum Beispiel eine Computertomografie und die dreidimensionalen Bilder der Mund­kamera», sagt Goran Benic von der Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin an der Universität Zürich.

Dabei sehen die Ärzte am Bildschirm das 3-D-Modell des Kieferknochens, des Zahnfleischs und der gewünschten ­Rekonstruktionen mit Kronen oder Brücken. Sie definieren, wo und wie die Behandlung erfolgen soll. Der Computer liefert die Daten an einen 3-D-Drucker, der eine Bohrschablone herstellt. Die durchsichtige Kunststoffschablone passt exakt über die zu behandelnde Stelle im Mund des Patienten. Damit setzt der Mediziner das Implantat exakt an die vorgesehene Stelle in den Kieferknochen ein. «Für den Zahnarzt ist das bei komplexen Fällen eine grosse Unterstützung», sagt Benic. Die 3-D-Planung und die «geführte Implantation» seien Techniken, um die beste Behandlungsoption zu wählen und Fehler zu vermeiden.

Nur für Studenten

Zahnkronen oder Inlays werden jedoch nach wie vor in abbauenden Verfahren gefertigt, also aus einem Block herausgefräst und geschliffen. Eine Materialverschwendung. Der Grund dafür: Bisher ist es nicht möglich, Keramik, das ge­eignetste Material für den Zahnersatz, im 3-D-Drucker zu verwenden. Auf­bauende Verfahren sind aber bei me­tallischen Strukturen mit dem Selektiven Lasers­internverfahren (SLS) möglich. Mit der Methode können Metall­gerüste Schicht um Schicht aufgebaut und später mit Keramik oder Kunststoff verblendet werden.

Dennoch stellt Dirk Mohn bereits Zähne im 3-D-Drucker her – aus Kunststoff, transparent oder zahnfarben, nicht geeignet zum Kauen. «Mit diesen Modellen können Studenten die komplexe Wurzelanatomie kennenlernen», sagt der Chemie-Ingenieur. Dank de­taillierten Mikro-Computertomografien als Vorlage konstruiert der Gründer des Start-up-Unternehmens Smartodont die Kunststoffzähne mitsamt den filigranen Wurzeln. Die Studenten sehen in den transparenten Zahnmodellen alle Hohlräume und Kanäle. Das war bisher mit natürlichen Zähnen von Spendern nicht möglich. Auch konnte nie ein ganzer Kurs den gleichen Zahn als Prüfungs­objekt behandeln.

In der automatisierten CAD/CAM-Technologie liegt die Zukunft der Zahnmedizin, ist Pionier Werner Mörmann überzeugt. «Ich habe immer von einer voll ­digitalisierten Zahnklinik geträumt», sagt der Forscher. «Bald ist es so weit.»

Podiumsdiskussion zur Digitalisierung in der Zahnmedizin während der Scientifica am Samstag, 5. September, 13.30 Uhr im Zentrum für Zahnmedizin, Plattenstrasse 11, Zürich. (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 30.08.2015, 18:37 Uhr)

Der Zahn aus dem Drucker

Das Potenzial der 3-D-Druck-Technologie in der Zahnmedizin ist immens. Statt eine Krone extern vom Zahntechniker anfertigen zu lassen, kann sie in wenigen Minuten in der Praxis ausgedruckt werden – während der Patient im Stuhl sitzt. Der Kunde muss nicht wie früher über eine Woche auf seine Krone warten und mehrere Termine beim Zahnarzt vereinbaren: Eine Sitzung reicht.

Noch ist das Zukunftsmusik. In der Zahnmedizin werden heute 3-D-Printer vor allem für Zahnmodelle und eingeschränkt für provisorische Rekonstruktionen eingesetzt. Der Zahnersatz für dauerhafte Rekonstruktionen ist noch nicht realisierbar. Tim Joda, an den Zahnmedizinischen Klinken der Universität Bern zuständig für digitale Technologien, erklärt: «Der Knackpunkt ist, dass für 3-D-Printer gegenwärtig kein Werkstoff für die Herstellung von finalen ­Rekonstruktionen erhältlich ist.»

Ausgedruckt in sieben Minuten

Neben der Suche nach neuen Werkstoffen wird auch die Beschleunigung des Druckprozesses vorangetrieben. Anfang Jahr präsentierten verschiedene Unternehmen neue Technologien, die den Prozess um bis zu 100-mal beschleunigen. «Ein Zahnarzt kann dann eine Krone in weniger als sieben Minuten ausdrucken», versprach etwa Joseph ­DeSimone, Chef des Unternehmens Carbon 3-D und Chemieprofessor an der Universität von North Carolina, an einer Innovationskonferenz.

Bis es den Instantzahnersatz aus dem Drucker gibt, wird es noch dauern. Vergleichbare Methoden, die unter dem Begriff CAD/CAM-Methoden laufen, sind in der Zahnmedizin aber bereits etabliert. Das an der Universität Zürich entwickelte Cerec-System etwa liefert ähnliche Ergebnisse wie ein 3-D-Drucker. Dabei handelt es sich um eine computergesteuerte Schleif­einheit, die aus einem Keramikblock den vorher virtuell designten Zahn­ersatz herausfräst (siehe Haupttext).

Solche digitale zahnmedizinische Technologien erleben in jüngster Zeit einen Boom. Der Verband des Schweizer Detailhandels spricht von je 70 bis 75 abgesetzten Geräten in den letzten beiden Jahren. 2010 waren es erst 40 bis 60 Apparate, davor noch weniger. Gemäss Schweizer Zahnärztegesellschaft (SSO) sind solche Methoden seit neustem sogar Teil des Zahnmedizinstudiums.

83 Prozent sehen schwarz

Mit der aktuellen Entwicklung könne sich die Wertschöpfungskette so verschieben, dass das Labor ausgeschlossen werde, sagt Christian Hodler, Generalsekretär des Verbands zahntechnischer Laboratorien. Eine Umfrage unter Technikern hat ergeben, dass 83 Prozent der Befragten denken, es werde in den nächsten drei bis fünf Jahren weniger Labors geben als heute – im Jahr davor äusserten sich erst 71 Prozent so negativ.

Trotzdem: Aussterben wird der Beruf des Zahntechnikers vorläufig nicht. Die grössten Chancen sieht Hodler im Bereich des ästhetisch hochwertigen Zahnersatzes. Und die Zahnärztegesellschaft vertritt die Haltung, es sei finanziell und zeitlich effizienter, wenn sich nicht der Zahnarzt, sondern der Techniker auf die neue Technologie spezialisiere. Für die Techniker bedeutet das: Sie werden künftig enger mit dem Zahnarzt zusammenarbeiten müssen – unter Umständen sogar als dessen Angestellte.

Wer im Geschäft bleiben will, muss sich mit den neuen Möglichkeiten auseinandersetzen. Punkto 3-D-Druck tun das derzeit nur wenige Labors. 40 Prozent sagten gegenüber dem Verband, sie würden sich nicht oder nur am Rande mit 3-D-Printing befassen. Für Hodler hat diese Zurück­haltung zwei Gründe. Einerseits sei die Technologie für die Branche noch nicht marktreif. «Anderseits wird der 3-D-Drucker zum Wegfall von Arbeitsplätzen führen – unter Umständen des eigenen.»

(Tages-Anzeiger)

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