Aus dem Ungarischen von Christina Viragh

Aus dem Ungarischen von Christina Viragh

Der Ungar Péter Nádas gilt als einer der renommiertesten Schriftsteller der Welt. Seit Jahren wird er als heißer Kandidat auf den Literaturnobelpreis gehandelt - nicht zuletzt wegen seines Romans "Buch der Erinnerung" von 1985. Seinen neuen Roman "Parallelgeschichten" stellt Tobias Wenzel vor, der auch mit Péter Nádas gesprochen hat.



Péter Nádas Geschichten zweier Familien in Ungarn und Deutschland lenken den Blick auf die Körper-Wahrnehmung der Figuren.


In "Parallelgeschichten" folgt Péter Nádas atemberaubend souverän den Lebensläufen einer deutschen und einer ungarischen Familie, die über die schrecklichen geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts miteinander verknüpft sind. 18 Jahre lang hat der ungarische Autor an seinem 1.723 Seiten starken Roman geschrieben.

Péter Nádas: "Wenn ich zurückdenke: als ob es 200 Jahre wären. Das ist sehr lange her, wirklich."

Psychosen und eine Leiche im Park

Berlin 1989, kurz vor Weihnachten: Carl Maria Döhring, Student der Psychologie und Philosophie, hat beim Joggen in einem Park eine Leiche gefunden und die Polizei informiert. Ist der Mann eines natürlichen Todes gestorben? Döhring hat psychische Probleme. Hat er selbst den Mann im Park getötet oder bildet er sich das nur ein?

Man bräuchte eine ganze Armee von Psychologen und Psychiatern, um die Neurosen und Psychosen der Figuren im Buch angemessen zu versorgen.

Das gilt auch für die Budapester Familie Lippay-Lehr, die wir zuerst Anfang der 60er-Jahre kennenlernen. Da ist der selbstverliebte Ágost, ein Geheimdienstler, der mit seiner Frau Gyöngyvér viel Sex hat. Aber beim Akt fühlen sie jeweils, dass sie nur "parallel funktionieren".

Leseprobe:
[...] zuweilen waren tatsächlich die Schreie, die Ágost bei ihr auslöste, für ihn bestimmt, sie kam auch ein wenig fur Kristóf zum Höhepunkt. Ein bisschen lauter als nötig, damit er im Nebenzimmer etwas davon hatte.

Körper-Erinnerungen

Der genannte Kristóf leidet unter Zwangshandlungen, verliebt sich mal in eine Frau, sucht dann anonymen Sex mit Männern, und möchte sich umbringen.

Auf fast jeder Seele in diesem Roman lastet eine fatale Schwere. Morde und Verrat in der deutschen und ungarischen Geschichte scheinen sich nicht nur in die Seelen der Personen eingeschrieben zu haben, sondern auch in ihre Körper. "Der Körper erinnert" heißt es an einer Stelle. Der Körper ist die heimliche Hauptfigur dieses Buchs. Über mehrere hundert Seiten wird der Geschlechtsverkehr oder die Masturbation gnadenlos exakt beschrieben.

"Parallelgeschichten" ist ein Zeugnis der Freiheit, den menschlichen Körper genauso scharf zu beobachten wie die komplexe menschliche Psyche. Der geballten Körperlichkeit wird der Leser aber sehr schnell überdrüssig. Das ist schade. Denn dieser Roman ist ansonsten ein virtuoser Roman. Als Leser ist man aber versucht, den ganzen Sex zu überblättern.

Péter Nádas: "Man kann überblättern, man kann hundert Seiten überblättern. Ich habe de Sade (auch) nicht gern, aber mit Gewinn gelesen."

Parallelgeschichten

Péter  Nádas, aus dem Ungarischen von Christina Viragh

  • Typ: Buch
  • Bestellnummer: 978-3498046958
  • Verlag: Rowohlt, 1.723 Seiten
  • Preis: 39,95 €

Drucken

Seite empfehlen

Leave a Reply