Auch über Aalhoden geforscht

LEBENSWERK Erste Sigmund-Freud-Gesamtausgabe mit 23 Bänden erscheint in Gießen

GIESSEN - Es dürfte unbestritten sein, dass Sigmund Freud zu den größten Denkern des 20. Jahrhunderts gehört. Denn der Neurologe und Gründervater der Psychoanalyse hat nicht bloß die Psychologie entscheidend geprägt. Von ihm definierte Begrifflichkeiten wie das Unbewusste, die Projektion oder der Ödipuskomplex zählen mittlerweile zum allgemeinen Kulturgut. Umso bemerkenswerter ist es, dass es bislang keine Gesamtausgabe seiner Schriften gab. Dank des Gießener Psychosozial-Verlages ändert sich das jetzt: In dieser Woche sind die ersten vier Bände der insgesamt 23-bändigen Ausgabe erschienen. Mit Prof. Christfried Tögel hat Verleger Prof. Hans-Jürgen Wirth einen international renommierten Herausgeber an seiner Seite.

Schließt Lücke

„Im Verlag Fischer gibt es eine Gesamtausgabe, bei der allerdings 95 Prozent der voranalytischen Schriften fehlen“, erzählt Tögel im Gespräch mit dem Anzeiger. Seit Jahrzehnten befasst sich der Fachmann, der unter anderem die Erfassung und Neuordnung der Archive der Freud-Museen in Wien und London leitete, mit Sigmund Freud. Auch für den Psychosozial-Verlag: Mit der Gesamtausgabe schließt der Verlag eine klaffende Lücke. Tögel: „Unsere Ausgabe ist die bisher erste und einzige Ausgabe, die diese Schriften enthält. Wir orientieren uns bei der Veröffentlichung eng an den Originalveröffentlichungen von Freud.“ Um Psychologie geht es in diesen sogenannten voranalytischen Schriften allerdings noch nicht, wie Titel wie „Beobachtung über Gestaltung und feineren Bau der als Hoden beschriebenen Lappenorgane des Aals“ aus dem Jahr 1877 deutlich machen.

„Auch ohne die Psychoanalyse wäre Freud einer der bekanntesten Neurologen des 20 Jahrhunderts geworden“, erklärt Tögel mit Blick auf die frühen Schriften des Mediziners, der, so der Herausgeber, auch in seinen späteren psychologisch-psychoanalytischen Arbeiten die medizinisch-physiologische Herangehensweise an den Menschen nie aufgegeben hat. Übrigens: Zu den Arbeiten der frühen Jahre gehört auch die Schrift „Über Coca“ von 1884. Freud, der 1856 in Freiberg geboren wurde und 1939 in London verstarb, hat über Kokain geforscht und dabei auch Selbstversuche durchgeführt. „Er hat ausprobiert, wie sich damit die Leistungsfähigkeit steigern lässt“, erläutert Tögel, der allerdings auch von einem tragischen Fehlversuch berichtet. Denn um einen engen Freund von der Morphinsucht zu heilen, hatte der Arzt Kokain verschrieben, mit den entsprechenden Konsequenzen. Dennoch: „Sigmund Freud hat das Kokain als Lokalanästhetikum entdeckt, doch ein Kollege wurde dafür gefeiert“, so Tögel.

Auch habe der Wahl-Wiener, der 1938 vor den Nazis ins Londoner Exil fliehen musste, als erster Hirnschnitte des Menschen mit Goldfarbe eingefärbt. Kurz, die voranalytischen Schriften umfassen zahlreiche spannende Themen. Sie haben Freuds Denken in der heute wieder höchst aktuellen Verbindung von Neurowissenschaft und Psychologie in seinem gesamten Schaffen geprägt.

Psychologisch im landläufigen Sinn wird es dann ab Band fünf, der unter anderem die „Studien über Hysterie“ umfasst, bevor im Band sieben die berühmte „Traumdeutung“ erscheint. Geplant ist, dass pro Halbjahr ein bis zwei Bände der Gesamtausgabe herauskommen, die zum Subskriptionspreis von 1638,80 Euro erhältlich ist. Die ersten vier Bände sind für 299,90 Euro bereits verfügbar.

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