"Auch Punks sind konform"

Er doziert an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und beschäftigt sich mit der Frage, welche psychologischen Muster hinter Geschmacksentscheidungen stehen. Thomas Jacobsen ist Professor für Allgemeine Psychologie, kennt sich aber auch mit neuro-kognitiver Ästhetik aus. Lucas Negroni hat mit ihm gesprochen.

Die Welt:

Gibt es den "guten Geschmack", oder ist das nur ein Produkt der jeweiligen Lebensgeschichte?

Thomas Jacobsen:

Guter Geschmack ist das, was eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe als solchen definiert.

Zum Beispiel tragen viele Journalisten Hornbrillen...

...Genau, das sind einzelne Facetten von Normen. Wir wissen, wie wir die Zugehörigkeit zu einer Gruppe signalisieren. Da geht es darum, wie individualistisch oder intellektuell muss ich mich geben, und welche Symbole stehen dafür? Mit den Hornbrillen hätte man vor drei Jahren nicht kommen können, mittlerweile tragen sie alle - das mag sich aber auch wieder ändern.

Geschieht die Entscheidung für einen bestimmten Kleidungsstil bewusst?

Manchmal ja, zum Beispiel der Punk: Ich fange mit Sicherheit nicht zufällig an, mir Nadeln durch alle möglichen Körperteile zu stechen und mir einen Iro zu machen. Da muss ich mich schon entscheiden, dass ich Punk sein und der Gesellschaft zeigen möchte, dass ich ihren Werten gegenüber nonkonform bin. Gleichzeitig sind Punks aber sehr konform gegenüber den Regeln ihrer Subkultur.

Wie sind solche Normen überhaupt entstanden? Gab es in der Evolution des Menschen einen Punkt, an dem man sagen konnte: Da hat das angefangen?

Das hat angefangen mit Bemalung und generell Ornamentierung der Haut, die afrikanischen Nuba haben sich beispielsweise Asche in Wunden gestreut und dadurch künstlich Schmucknarben erzeugt. Es ging auch dabei immer darum, den eigenen sozialen Status und die eigene Attraktivität möglichst wirkungsvoll zu untermauern. Die Evolutionstheorie der "costly signals" spricht hier von aufwendigen Signalen. Das Prinzip lässt sich auch auf Kleidung übertragen. Durch die Art der Kleidung wird die eigene Attraktivität gesteigert und der soziale Status gezeigt.

Warum kleiden sich Männer heute immer androgyner?

Das ist ein völlig arbiträres Schönheitsideal, das vermutlich einen willkürlichen Auslöser hatte. Seit Tausenden von Jahren entstehen solche Ideale durch Übertreibungen eines Merkmals, was oft im Extrem endet. Beispielsweise die asiatischen Lotusblütenfüße: Die Frauen hatten ganz verkrüppelte Füße, aber das hat dem Schönheitsideal entsprochen. Da passieren Dinge, die so grotesk sind, dass ich sie gar nicht mehr angucken mag.

Kann man sagen, dass die Kleidung so etwas wie eine Gebrauchsanweisung für das jeweilige Gegenüber ist?

Ja, wenn die Kleidung ein verlässlicher Ausdruck der sozialen Rolle ist. Wir sprechen dann von einem Hinweisreiz, einem Reiz, der es uns ermöglicht, unser Verhaltensschema für diese soziale Rolle zu bestimmen. Wenn mir jemand beispielsweise in Anzug und Krawatte gegenübertritt, dann will er mir signalisieren: Ich bin konform mit diesem Rollenschema, ich bin zuverlässig und auf das, was ich sage, können Sie sich verlassen. Das ist ganz klar ein bewusst eingesetzter Hinweisreiz, um das Schema beim Gegenüber zu aktivieren.

Ist Individualismus in der Mode eine Illusion?

Nein, ich glaube das gibt es. In der Mode geht ja alles. Ich weiß nicht, ob man das noch weiter auf die Spitze treiben kann als in den letzten zehn Jahren. Wenn ich meinen eigenen Stil kreieren möchte, dann geht das. Kann sein, dass mich auf der Straße dann alle auslachen. Man kann auch ganz nackt auf die Straße. Fällt Ihnen was ein, was man nicht machen kann?

Naja, kommt ganz drauf an. Mit Polo-Klamotten kann ich jedenfalls kein Punk werden.

Ja, das stimmt. Es gibt sicher Dinge, die sind inkompatibel. Wenn man weiß, dass man sich nur noch in seiner Subkultur bewegen will, dann muss man mit gewissen Einschränkungen rechnen, also auch erwerbsmäßig.

Ist es Küchentischpsychologie, von der Kleidung auf die Psyche eines Menschen schließen zu wollen?

Ja, ich glaube schon. Sagen wir mal so, es gibt Stereotype und Verkleidungen, die einen auf die falsche Fährte bringen können. Das muss man natürlich hinterfragen. Andererseits ist ein bestimmtes Verhaltensrepertoire bei jemandem, der beispielsweise ein echter Punk ist, ausgeschlossen.

Warum tragen ältere Menschen eigentlich immer Pastellfarben? Das ist ein Mysterium für mich.

(lacht) Das weiß ich auch nicht. Vielleicht liegt das an der immer größeren Konzentration von einzelnen Ketten im Einzelhandel. Es gibt deshalb immer weniger Möglichkeiten, sich individuell zu kleiden. Aber es hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass viele denken, es wird von ihnen erwartet.

Gerade in Berlin sieht man oft, dass Modeplakate überschrieben sind mit Graffitis, die die Werbung als sexistisch kritisieren. Sehen Sie das auch so?

Ja klar, das gibt es. Zum Beispiel die HM-Reklame. Da kann man sich schon fragen, warum diese Damen gerade im Winter in Unterwäsche auf den Straßen gezeigt werden.

Meinen Sie, dass der Druck an Perfektion zunehmen wird?

Das weiß ich nicht. Wir sehen ja jetzt schon die ersten Strömungen, das zurückzudrehen. Insgesamt ist alles gerade aber sehr stark auf physische Attraktivität fokussiert. Vielleicht ändert sich das bald wieder.

Wie hat ihr Beruf ihre Wahrnehmung anderer Menschen geprägt? Analysieren Sie Menschen, wenn Sie sie sehen?

Ja, vielleicht ein bisschen. Ich gucke ab und zu, ob jemand die impliziten Uniformaspekte mitmacht oder nicht.

Was sagt das über den Menschen aus, ist so jemand manipulierbarer?

Nein, da kommt vieles zusammen: Gestik, Mimik, was man sagt, und wie man es sagt. Kleidung ist da nur ein Teilaspekt.

Wie ist das bei Ihnen? Stehen Sie jenseits der ganzen Codes?

Nein, ich halte mich an Codes. In der Uni trage ich in der Regel Anzug, das ist eindeutig eine Berufsuniform.

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