„Auch die Seele beruht auf physiologischen Vorgängen“

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Foto: Karla Fritze/UP

200 Experten aus aller Welt beraten seit Montag an der Universität Potsdam über die Potenziale der mathematischen Psychologie. Ralf Engbert erklärt, wie man menschliche Entscheidungen berechnet und wieso seine Disziplin immer wichtiger wird

Herr Engbert, lassen sich menschliche Entscheidungen tatsächlich mathematisch modellieren?

Ja, das lässt sich relativ gut beschreiben, wenn es sich um „einfache“ Entscheidungen handelt. Bei solchen Entscheidungen bieten wir beispielsweise unseren Versuchspersonen für sehr kurze Zeiten Gesichter dar und stellen die Frage, ob es sich um ein weibliches oder männliches Gesicht handelt. Dabei entwickelt sich eine Tendenz zu einer bestimmten Antwort kontinuierlich über die Zeit, wobei die Wissensbasis immer weiter verfeinert wird. Und dieser Prozess der Wissensakkumulation kann dann sehr präzise in mathematischen Modellen beschrieben werden.

Und wie können Sie das messen?

Die Versuchsteilnehmer müssen eine eindeutige Entscheidung zwischen zwei Alternativen fällen, wie eben „männliches Gesicht“ – „weibliches Gesicht“. Dann messen wir die Verteilung der Reaktionszeit, also die Zeit bis zum Drücken einer Antworttaste. Die statistische Verteilung der Reaktionszeiten von mathematischen Modellen wird dann mit den experimentellen Daten menschlicher Entscheidungsprozesse verglichen.

In der Wissenschaft streitet man momentan darüber, ob Entscheidungen überhaupt getroffen werden oder nicht schon längst feststehen.

Dabei geht es um die Frage der Bewusstheit der Entscheidungen. Das ist ein Thema, das in den Neurowissenschaften in letzter Zeit stark in den Vordergrund getreten ist. Dabei wird kontrovers diskutiert, wann der Prozess als Entscheidung bewusst wird. Beim derzeitigen Erkenntnisstand ist es schwierig, in dieser Frage eine klare Position zu beziehen. Fest steht für uns aber, dass Entscheidungen kontinuierliche Prozesse sind. Wenn die Probanden nach einer sehr kurzen Zeit aufgefordert werden, sich sofort zu entscheiden, können sie bereits mit hoher Wahrscheinlichkeit die richtige Entscheidung wählen, obwohl ihr Entscheidungsprozess noch nicht abgeschlossen war. Dieses Ergebnis belegt eine über die Zeit anwachsende Evidenz für oder gegen eine bestimmt Antwort. In diesem Sinne kann man also sagen, dass die Entscheidung nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt getroffen wird.

Für Ihre Untersuchungen nutzen Sie die Mathematik.

Die Mathematik hilft uns, solche Prozesse zu modellieren. Damit können wir besser vorhersagen, welche externen Variablen die Entscheidung beeinflussen und sogar, auf welche Weise.

Sie haben zurzeit über 200 renommierte Experten aus aller Welt zu dem Thema nach Potsdam eingeladen. Was hat sich dabei bislang gezeigt?

Die mathematische Psychologie kommt traditionell von der Verhaltensbeobachtung. Doch mittlerweile gibt es Überschneidungen mit den Neurowissenschaften. Wir interessieren uns für die Prozesse im Gehirn, die dem im Experiment beobachtbaren Verhalten zugrunde liegen. Auf unserer Potsdamer Tagung wurde zum ersten Mal gezeigt, wie die mathematische Beschreibung neuronaler Daten aus der Hirnforschung mit Daten aus der Experimentalpsychologie kombiniert wird. Hier wachsen zwei Disziplinen zusammen zur naturwissenschaftlichen Betrachtung psychischer Prozesse.

Ist die Psyche also ein biologisches Konstrukt?

So könnte man sagen. In der Gründungsphase der mathematischen Psychologie in den 1960er-Jahren war der Erfolg dieser Forschungsrichtung kaum absehbar. Heute wissen wir, dass die geistigen Prozesse alle auf physikalischen und biochemischen Vorgängen beruhen. Seele, Psyche, Geist – dahinter stehen Prozesse, die von physiologischen Vorgängen hervorgerufen werden.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Wir entwickeln mathematische Modelle beispielsweise für Blickbewegungen beim Lesen. Dabei haben wir in unseren Modellen angenommen, dass Wörter nicht einzeln, sondern mehrere nebeneinander stehende Wörter parallel vom Gehirn verbreitet werden. Traditionelle Modelle waren bisher eher von einer seriellen Verarbeitung ausgegangen – also nacheinander. Mit unseren experimentellen Daten konnten wir jedoch belegen, dass die Blickdauer nicht nur von den Eigenschaften wie der Worthäufigkeit des gerade angeschauten Wortes, sondern auch von den Eigenschaften der Nachbarwörtern abhängig ist. Wie lange man beim Lesen auf ein bestimmtes Wort schaut, hängt also nicht nur von der Beschaffenheit dieses Wortes, sondern auch von den Nachbarwörtern ab.

Was nutzt diese Erkenntnis?

Dieses Ergebnis hat auch Bedeutung für klinische Fragestellungen wie etwa die Lese-Rechtschreibschwäche.

Ihr Bereich hat an der Potsdamer Universität eine recht starke Position.

An der Universität Potsdam ist die Vernetzung der Psychologie mit der Linguistik, aber auch der Informatik und den Naturwissenschaften sehr gut ausgeprägt. Diese Verzahnung spiegelt sich in einem aktuellen Forschungsprojekt wider, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft hier in Potsdam seit über fünf Jahren gefördert wird. Das Projekt ist auch der Hintergrund dafür, dass diese internationale Tagung nun nach Potsdam gekommen ist. Seit Gründung unseres Forschungsbereichs haben wir immer stark auf die interdisziplinäre Vernetzung mit den Naturwissenschaften geachtet. Das zahlt sich nun aus.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Ralf Engbert ist Professor für Allgemeine und Biologische Psychologie an der Uni Potsdam. Sein Fokus liegt auf Modellen kognitiver Prozesse, Aufmerksamkeit und Augenbewegung.

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