Ansteckende Blutkonserven

Die hohen Preise der neuen Medikamente gegen das Hepatitis-C-Virus (HCV) haben auch eine gute Seite: Sie empören viele und führten dazu, dass die Aufmerksamkeit für die lange Zeit stiefmütterlich behandelte Infektion deutlich gestiegen ist. An der Jahresversammlung der Schweizerischen Expertengruppe für virale Hepatitis (SEVHep) in Zürich erhofften sich die Fachleute unlängst zusätzlich Rückenwind für ihre Hepatitis-Strategie für die Schweiz.

Das Ziel der privaten Organisation, bis in 15 Jahren alle Hepatitis-C-Infektionen zu eliminieren, ist ambitioniert. In den USA übersteigt gemäss der Gesundheitsbehörde CDC die Zahl der Todesfälle durch HCV die Summe aller anderen 60 erfassten Infektionskrankheiten (inklusive Aids). Ähnliches dürfte für die Schweiz gelten. Weil es oft mehrere Jahrzehnte dauert, bis sich negative Folgen wie Leberzirrhose oder Leberkrebs zeigen, dürfte diese Zahl weiter steigen.

Mit der gestiegenen Aufmerksamkeit für Hepatitis C nimmt allerdings auch die Sorge in der Bevölkerung zu. Viele beginnen sich Gedanken zu machen, ob sie sich nicht selbst vor langer Zeit angesteckt haben. Von den 80 000 HCV-Infizierten, die für die Schweiz geschätzt werden, weiss rund die Hälfte nichts von der Infektion. Viele haben sich durch ­Risikoverhalten mit Drogen oder beim Sex angesteckt. Ein beträchtlicher Teil der HCV-Fälle ist jedoch eine Folge von Bluttransfusionen vor der Entdeckung des Virus Anfang der 90er-Jahre. Unter allen Hepatitis-C-Infektionen, die dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) gemeldet worden sind, gehen rund 10 Prozent auf Bluttransfusionen zurück.

«Übertragung durch Bluttransfusion gehört zu den am häufigsten genannten Risiken», sagt Philip Bruggmann, SEVHep-Präsident und Chefarzt der Arud-Zentren für Suchtmedizin. «Ob die Prozentsätze bei den noch nicht getesteten Betroffenen ähnlich sind, wissen wir nicht sicher.»

Ergebnislose Suche

Was dies im konkreten Fall bedeuten kann, schildert Bettina Maeschli vom Positivrat, der Patienten mit HIV, HCV und weiteren Infektionen vertritt. So ­erfuhr eine Patientin erst mit 64 Jahren von ihrer HCV-Infektion, die sie sich vor 30 Jahren bei der Geburt ihres Kindes geholt hatte. Die Frau hatte wegen Blutverlust eine Transfusion erhalten, damals ein häufiges Vorgehen. Ihre Erkrankung entdeckte man erst, als die Viren zu Leberschäden und einem Lymphdrüsenkrebs führten. «Bei Hepatitis C denken alle an Drogensüchtige, die sich mit verunreinigten Spritzen infiziert haben», sagt Maeschli. «Dabei geht vergessen, dass sich viele auch ohne besonderes Risikoverhalten angesteckt haben.»

Die Sorge um eine mögliche HCV-Infektion schlägt bei manchen auch in Empörung um. «Bei Autos mit vermuteten Mängeln bei Airbag- und Abgas­normen erfolgen durch die jeweiligen Autohersteller Rückrufe», schrieb vor einiger Zeit ein TA-Leser. Er wirft verantwortlichen Stellen vor, Betroffene nicht auf ihre mögliche Ansteckung und über entsprechende Handlungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht zu haben.

Allerdings wird tatsächlich versucht, rückwirkend Personen zu identifizieren, die sich durch Bluttransfusionen angesteckt haben. So prüft man bei Spendewilligen, bei denen eine HCV-Infektion entdeckt wurde, ob sie früher Blut gespendet haben. Wenn ja, werden die betroffenen Empfänger ausfindig gemacht und getestet.

1999 und 2005 hat der Blutspendedienst des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) in Rücksprache mit dem BAG auch nach weiter zurückliegenden Ansteckungen gesucht. Alle ehemaligen Blutspender wurden angeschrieben und dazu aufgefordert, sich testen zu lassen, falls sie einen Verdacht auf eine An­steckung hatten. «Man hat damals eine grosse Anzahl von Fällen erwartet, jedoch praktisch nichts gefunden», sagt Rudolf Schwabe, Direktor Blutspende SRK Schweiz. «Offenbar wurde unterschätzt, wie viele Hepatitis-C-Infizierte bereits von ihrer Ansteckung wussten und nicht mehr zur Blutspende gingen.» Ein wichtiger Grund dürfte auch sein, dass in den 80er-Jahren aufgrund der neu auftretenden Aidserkrankung, Risikogruppen wie Homosexuelle und Drogensüchtige von der Blutspende ausgeschlossen wurden. «Diese Personenkreise waren damals auch gehäuft von Hepatitis C betroffen.» Dadurch wurden wohl viele Ansteckungen verhindert.

Solidaritätsfonds für Härtefälle

Heute finden sich unter den Personen, die zur Blutspende kommen, kaum noch HCV-Fälle. Laut Schwabe waren es 2013 gerade mal 12 Fälle auf 380 000 Spender. Diese Zahlen seien zwar nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, so der Naturwissenschaftler. «Dennoch stellt sich die Frage, ob die Hepatitis-C-Dunkelziffer nicht zu hoch angesetzt ist.»

Philip Bruggmann warnt vor solchen Schlüssen. «Patienten mit bekannten ­Risikofaktoren werden von der Blutspende ja bereits im Voraus ausgeschlossen.» Drogenkonsumenten, Personen mit ­sexuellem Risikoverhalten und eben auch solche, die in den 80er-Jahren eine Bluttransfusion erhalten haben, tauchen deshalb in Spenderzahlen gar nicht auf. Bei der Schweizerischen Hepatitis-Strategie ist ein Screening von Personen mit den Jahrgängen 1955 bis 1974 aus diesem Grund ein wichtiges Element.

«Eigentlich müsste jeder Hausarzt seine Patienten in dieser Alterskategorie fragen, ob sie vor 1990 eine Bluttransfusion erhalten haben und bei Bedarf testen», sagt Beat Müllhaupt, Leberexperte am Unispital Zürich. «Das wird leider kaum gemacht.» Selbst Medizinern fehle es an Wissen. «Zudem sind HCV-Infektionen im Vergleich zu Bluthochdruck oder Diabetes selten und gehen bei solchen Abklärungen vergessen.»

Eigentlich wollen die Hepatitis-Experten das Screening der Bevölkerung noch nicht zu sehr forcieren. Dies weil viele dann zwar wüssten, dass sie infiziert sind, jedoch nicht therapiert werden könnten. Eine Behandlung mit Medikamenten wie Sovaldi und Harvoni kostet selbst nach einem Preisabschlag vor zweieinhalb Monaten noch immer rund 50 000 Franken. Das BAG hat deshalb die Verwendung der Medikamente weiterhin auf Patienten beschränkt, die bereits fortgeschrittene Leberschäden haben. Bei Personen, die sich über eine Bluttransfusion angesteckt haben, kann ein Test allerdings dennoch sinnvoll sein. «Weil die Infektion mindestens 25 Jahre zurückliegt, ist die Erkrankung oft so weit fortgeschritten, dass eine Behandlung selbst mit den Einschränkungen durch das BAG von den Krankenkassen bezahlt wird», so Müllhaupt.

Für Härtefälle hat Blutspende SRK Schweiz zudem einen Solidaritätsfonds eingerichtet. Bei einer Schädigung durch kontaminierte Bluttransfusionen würden damit je nach Schweregrad einmalige Zahlungen bis zu lebenslange Renten ausgesprochen, «allerdings ohne rechtlichen Anspruch», wie Schwabe betont. Die meisten Fälle würden HIV-Ansteckungen aus den 90er-Jahren betreffen. «Hepatitis-C-Fälle hatten wir sehr selten.»

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 11.11.2015, 19:37 Uhr)

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