Anreden gegen die Stimmen im Kopf – Tages

Patientinnen und Patienten, die erstmals einen psychotischen Schub erleiden, könnte besser geholfen werden. Sie reagieren positiver auf eine koordinierte Therapie mit niedrig dosierten Medikamenten als auf die herkömmliche Behandlung mit hoch dosierten Neuroleptika.

Das geht aus einer zweijährigen US-Studie an 404 Patientinnen und Patienten hervor, die gestern im angesehenen «American Journal of Psychiatry» veröffentlicht wurde. Laut der «New York Times» reagieren Fachleute zustimmend und hoffnungsfroh auf die Resultate. Das erste spricht für die Sorgfalt der Studie, das zweite ergibt sich aus der schweren Therapierbarkeit der Krankheit. Und diese ist weit verbreitet: Rund ein Prozent der Bevölkerung erkrankt im Lauf des Lebens an Schizophrenie.

Wie Jack Nicholson, nur anders

Psychotiker werden seit langem mit einer Kombination aus Psychopharmaka und Psychotherapie behandelt – meist hoch dosiert die einen, zurückhaltend angewendet die andere (in einer akuten Phase ist gar keine Therapie möglich). Zunächst muss es darum gehen, den Patienten einzustellen, wie das die Psychiater nennen. Er wird medi­kamentös so kalibriert, dass seine Symptome ihn nicht mehr überwältigen, ohne dass er deshalb durch die Welt läuft wie der lobotomisierte Jack Nicholson am Schluss von «One Flew over the Cockoo’s Nest». Im Idealfall vermögen die Medikamente den Patienten zu beruhigen, ohne ihn zum Zombie zu betäuben.

Und Ruhe muss sein. Es gibt mehrere Ursachen für Schizophrenie, und auch die Symptome unterscheiden sich, von der körperlichen Reglosigkeit über das Verflachen der Gefühle bis zur Angstpsychose. Klar ist nur: Der Patient durch­leidet eine Hölle. Ängste überfluten ihn, er hört Stimmen in seinem Kopf, die ihm Schreckliches befehlen, er halluziniert Schreckensbilder, hält sich für allmächtig und ohnmächtig, glaubt sich von Geheimdiensten verfolgt und fürchtet, seine Ärzte wollten ihn vergiften. Er kann nicht mehr schlafen, kann nicht mehr mit anderen reden, reagiert aggressiv, desorientiert, gerät in Panik.

Die schlimmsten Symptome lassen sich mit Medikamenten dämpfen. Und es stimmt, dass Neuroleptika nicht mehr die massiven Neben­wirkungen haben wie früher, Speichelfluss zum Beispiel, mahlende Kiefer, das Zittern in den Händen. Aber auch die modernen Medikamente haben unangenehme Folgen, der Patient, er fühlt sich müde und taub, er nimmt stark zu, sein Sexualtrieb nimmt ab, sein gesundes Denken ist beeinträchtigt.

Eine Frag der Dosis

Kein Wunder, interessiert sich die Psychiatrie für Alternativen mit niedrigeren Dosen. Der ameri­kanische Psychiater John Kane, ein anerkannter Schizophrenie-Forscher aus New York, hat mit seinem Team eine aufwendige Studie in diese Richtung durchgeführt. Sie fokussiert auf Patientinnen und Patienten, die einen ersten psychotischen Schub durchlitten haben und klinisch betreut werden, mehrheitlich Junge zwischen 20 und 30 Jahren, also keine chronisch Kranken.

Die 404 Patientinnen und Patienten, rekrutiert aus zufällig ausgewählten amerikanischen Kliniken, wurden in zwei Gruppen unterteilt. Die Versuchsgruppe bekam dosierte Psychopharmaka, dafür erhielten die Patienten eine Einzel­therapie, die ihnen gezielt beim Umgang mit ihren Symptomen half, zudem wurden Familienmitglieder einbezogen und auch der Alltag der Patienten gemeinsam gestaltet. Die Kontrollgruppe erhielt die übliche Behandlung aus hoher Dosierung antipsychotischer Medikamente und Kontrollgesprächen. Fachleute massen die ­Lebensqualität der Patienten, ihren Krankheits­zustand, ihre Arbeitsfähigkeit und den Umgang mit ihrer Familie.

Der Kontrollgruppe ging es nach zwei Jahren besser, der Versuchsgruppe deutlich besser. Mit halb so hoch dosierten Medikamenten. Wie sagen dem die Manager mit ihrem Hang zu Formeln, die alles Schwierige simpel machen? Win-win.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 20.10.2015, 18:55 Uhr)

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