Sein Verbrechen wird ihn wohl für immer als Patienten in eine geschlossene Psychiatrie bringen – aber nicht als Verurteilten in eine Haftanstalt.
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Die überraschende Einstufung des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik als unzurechnungsfähig durch zwei Rechtspsychiater hat entscheidende Weichen für den Prozess zum Mord an 77 Menschen gestellt, der im April beginnen soll.
Anders Behring Breiviks vielleicht hervorstechendste Eigenschaft ist, als normal zu erscheinen. Freunde und Familie sahen keine Anzeichen, sagen sie. Aber über Jahre hinweg hat er eine neue Identität angenommen. Als er im März dieses Jahres seine Stiefmutter besucht, sollen sie sich gut verstanden haben.
Aber zurück auf dem Hof, auf den er gezogen war, um die Terrorangriffe vorzubereiten, zeigt er sein zweites Gesicht. Dort schreibt er ins Tagebuch, dass er nicht böse auf andere Tempelritter sei, wenn sie die Stiefmutter töten würden, weil sie eine Vertreterin des „Feindes“ ist – sie hat im Außenministerium gearbeitet.
Am 22. Juli legt Breivik die Maske ab. Er ist jetzt Kommandeur Breivik: Jury, Richter, Henker und Herr über den Gang der Geschichte. So geht er an Land auf der Insel Utøya. Der Massenmord an den Mitgliedern des Jugendverbandes der Norwegischen Arbeiterpartei, in dem sein eigener Vater als junger Mensch selbst aktiv war, beginnt.
Jetzt werden beide Gesichter sichtbar. Er sagt freundlich und vertrauenerweckend: "Kommt her, er (der Attentäter, der kurz zuvor die Bombe in Oslo gelegt hat) ist festgenommen. Die Polizei ist hier. Jetzt seid ihr sicher." Um dann euphorisch zu schreien, während er die Jugendlichen, die um ihr Leben betteln, mit Kugeln durchlöchert.
35 Stunden Gespräche mit Breivik
Wie wurde er so? Für den Bericht des Rechtssachverständigen, der am Dienstag dem Gericht vorgelegt wurde, haben die beiden Psychiater Breivik zwölf Mal getroffen, insgesamt 35 Stunden lang, um zu beurteilen, ob der Angeklagte zurechnungsfähig ist – und um das Rätsel aufzulösen: Wie kann ein junger Mann im friedlichen Norwegen ein fanatischer Massenmörder werden?
Das Motiv ist politisch, sagen einige. Nein, hier geht es um ihn selbst, behaupten andere. Aber es gibt nicht die eine Ursache. In seinem Manifest „2083“ beschreibt er sich selbst als psychisch extrem stark und sein Aufwachsen als normal. Aber dies wird von vielen bestritten.
Attentäter Breivik erstmals vor Gericht
Jene, die ihn in der Kindheit sahen, beschreiben einen stillen und zurückgezogenen Jungen, der sich hinter der großen Schwester verstecken konnte, bis er im Alter von 14 bis 15 Jahren auffällig wurde. Ein Psychologe im Auftrag der Kinderschutzbehörde schlug Alarm, als der Junge klein war. „Aftenposten“ hat den Inhalt des Berichts wiedergegeben bekommen.
Als Anders Behring Breivik vier Jahre alt ist, soll die Mutter die Kinderschutzbehörde um Entlastung gebeten haben, und ein Psychologe wurde benannt, um den Bedarf zu beurteilen. Aber Entlastung war dem Psychologen zufolge nicht genug.
Als Vierjähriger war Breivik in einer Pflegefamilie
Er beurteilte die Situation als so ernst, dass er empfahl, den Jungen unverzüglich in ein permanentes Kinderheim zu bringen. Der Psychologe war der Auffassung, dass die Mutter ein gefühlsmäßig instabiles Verhältnis zum Sohn hatte. Er fürchtete, dass das Kind psychischen Schaden nehmen könnte.
Der Junge kam nicht ins Kinderheim. Aber der Vierjährige wohnte eine Zeit lang bei einer Pflegefamilie. Auch die Pflegeeltern sollen besorgte Meldungen abgegeben haben. Die Polizei hat jetzt zehn Personen in Verbindung mit dieser Angelegenheit verhört, darunter den Psychologen, die Kinderschutzbehörde und die Pflegeeltern.
Der Vater, der weder vorher noch später mit dem Sohn zusammenwohnt, fordert 1983 das elterliche Sorgerecht. Der Richter im Sorgerechtsstreit ist der Auffassung, dass nicht gut genug begründet wurde, dass der Sohn es bei dem Diplomaten in Frankreich besser haben würde.
Der Vater zieht den Antrag zurück. Nach dem Prozess bricht die Mutter die Unterbringung ihres Sohnes bei den Pflegeeltern ab. Der Psychologe, der das Kinderheim empfohlen hatte, verschickt nochmals einen alarmierenden Brief.
"Typische" Kindheit in der Mittelschicht
Die Kinderschutzbehörde verfolgt die Entwicklung in der Familie ein halbes Jahr. Bei Hausbesuchen finden die Beamten ein aufgeräumtes und ordentliches Zuhause vor. Auffälligkeiten, auf die der Psychologe reagiert hatte, werden nicht festgestellt.
Anders Behring Breivik bleibt bei der Mutter und der sechs Jahre älteren Schwester. Eine Kindheit, die er in „2083“ als gut und „typisch Mittelschicht“ beschreibt. Die Mutter möchte dazu nichts kommentieren, sagt ihr Rechtsanwalt auf Anfrage von „Aftenposten“.
Breivik wächst im Westen von Oslo auf, in einer Gegend, die Schulfreunde später als „Loch“ bezeichnen. In der Schule treffen sich Kinder von dort sowie aus Edel-Vierteln wie Slemdal und Vindern. Wenige Orte in Norwegen können auf so viel Reichtum verweisen.
Mehrere Quellen äußern, dass das Milieu an der Schule fürchterlich war. Die reichsten Schüler waren die coolsten in der Statushierarchie und Breivik mit alleinerziehender Mutter in einer Hochhauswohnung war ganz unten. Er soll wenig über die Familie gesprochen haben. Mehrere Freunde wussten nicht einmal, dass er eine große Schwester hatte.
Breivik wollte cool sein — und scheiterte
Auf der Schule versuchte er herauszufinden, ob er einer der Coolen war. Er hatte Markenkleidung, die unter den Reichsten etwas galt. Er bemühte sich nach besten Kräften. Aber er saß zwischen allen Stühlen, sagt Caroline Fronth, eine enge Freundin aus der Jugendschule.
Er veränderte den Stil, ging mehr aus sich heraus, begann mit Bodybuilding. Er wurde Hip-Hopper und ein Tagger, der sein Symbol mit Sprühdosen auf Wände und Züge sprühte. Aber ein schlechter Kerl sei er nicht gewesen, sagen ehemalige Klassenkameraden.
Einige erinnern sich an ihn als normal. Mehrere meinen, dass er sich für seine Freunde einsetzte. Er hörte zu, aber er sprach selten und zeigte selten Gefühle. Schulfreunde bezeichneten ihn als unsicher und verschlossen. „Er war wie ein Schatten“, sagt eine frühere Freundin.
Als 15-Jähriger wird Breivik mit Spraydosen allein in einem Zug in Kopenhagen aufgegriffen. Die Alarmmeldung soll nicht in Kinderschutzmaßnahmen resultiert haben. Im selben Jahr soll der Vater den Kontakt abgebrochen haben. Der Sohn soll Kontakt gewünscht habe, aber der gelang ihm nicht.
"Anders macht alles für einen perfekten Körper"
Zu dieser Zeit soll er von einem Mitschüler verprügelt und der Spitzelei beschuldigt worden sein. Aus dem Jahrbuch der Schule in diesem Jahr: „Früher war Anders ein Teil der Gang, aber dann zerstritt er sich mit allen. Anders macht jetzt alles für einen perfekten Körper, aber bis dahin ist es unserer Meinung nach noch ein weiter Weg. … Anders macht oft unprovozierte, dumme Dinge, z.B. die den Schuldirektor zu schlagen u.ä.“
Ob er darunter litt, seinen Platz zu finden, weiß man nicht. Er sagte das nie. Er macht Pläne, um Erfolg zu haben. Er wollte reich werden, ein Selfmade Man, sagen Quellen. Er begann auf dem Handelsgymnasium, aber hörte dort vor der Abschlussprüfung auf.
„Er war der Meinung, dass er das Zeugnis nicht brauchte“, sagt ein Klassenkamerad. „Das erschien mir komisch, denn er war ziemlich gut.“ In „2083“ fragt Breivik sich selbst: „Wie begann es?“ Er hatte in der Kindheit mehrere muslimische Freunde.
Aber er entdeckte früh, behauptet er, dass sie die norwegische Gesellschaft verachteten, dass sie norwegische Mädchen als Huren und Jungen als schwach ansahen. Muslime quälten mehrere seiner Freunde und raubten sie aus, schreibt er, er war selbst Gewalt ausgesetzt. Dies soll sein politisches Engagement geweckt haben. In dieser Zeit trieben Gangs in Oslo ihr Unwesen. In den Medien wurden sie „jugendliche Räuber“ genannt.
Breivik drängte anderen seine Meinung auf
Als 17-Jähriger trat er in die Jugendorganisation der Fortschrittspartei (FPU) ein. Jetzt veränderte er sich. Wenn er früher unsicher und ohne Meinung wirkte, wirkt er jetzt sehr selbstsicher. Aber nur in der Politik.
Gleich nach den Terrorangriffen gegen die USA im Herbst 2001 wird man auf seine sehr weitgehenden Meinungen über den Islam aufmerksam. „Er versuchte, mich in einer unangenehmen Weise zu überzeugen. Er drängte seine Meinungen förmlich auf, um mich festzunageln, statt in den Dialog zu gehen“, sagt der frühere FP-Vorsitzende im Regierungsbezirk Akershus, Tony Caffrey. Er und andere in der FPU trennten scharf zwischen Islam und den Terroristen.
Das war, Breivik zufolge, ein Fehler, der Islam sei die Ursache für den Terrorismus. In seinen Augen war die „jugendlichen Räuber“ in Oslo Muslime, ihre Handlungen hatten ihren Ursprung im Islam. Er beschreibt dies in 2083 als ein großes Erwachen.
Breivik leidet an Islamophobie, meint der Religionshistoriker Mattias Gardell. In seinem Buch „Islamophobie“ fragt er: „Wie hätten wir reagiert, wenn jemand gesagt hätte ‚So sind die Juden’ oder ‚Schwarze sind einfach so’.
Die Behauptungen über den Islam und die Muslime basieren auf einem essentialistischen Unterschiedsdenken: Das Bild von den ‚Muslimen’ als ein eigener Typ Menschen, ist nicht ungleich dem verzerrten Bild von den Juden im Antisemitismus.“
Gewaltspiele am PC zur Entspannung
Breivik beschreibt ein anderes „Erwachen“: „Die Elite öffnet den Weg für Einwanderung, aber tut so, als ob die Einwanderung keine Probleme verursacht, und Kritiker werden als Rassisten/Faschisten abgestempelt.“ Das Gefühl, gehetzt zu werden, um die „Wahrheit“ zu sagen, bekommt mit den Jahren gewaltsame Dimensionen. Selbst sachliche Gegenargumente werden in seinem Kopf zu unerträglichem Versagen.
Nach drei Jahren in der FPU gibt er auf. Er versucht, schnell reich zu werden, aber erfolglos. Er zieht zurück zur Mutter, um Geld zu sparen. Im Kinderzimmer verschlingt er Stoff von islamfeindlichen Gesinnungsgenossen im Internet. Ein neues Wirklichkeitsbild nimmt Gestalt an. Die Arbeit am „Manifest“ beginnt richtig.
Foto: AFP
Donnerstag, 21. Juli: Norwegens Außenminister Jonas Gahr Støre (M.) besucht einen Tag vor dem Attentat das Jugendlager der regierenden sozialistischen Partei auf Utoya. Die Sonne scheint, die Stimmung ist gelöst.
Foto: Scanpix/REUTERS
Freitag, 22. Juli, 15.26 Uhr: Detonationen erschüttern das Zentrum der Hauptstadt Oslo. Fenster von Regierungsgebäuden bersten, Rauch steigt auf, die Lage ist zunächst völlig unklar
Foto: dapd/DAPD
17 Uhr: Die Rettungskräfte arbeiten mit Hochdruck, es gibt erste Meldungen über Tote. Ministerpräsident Jens Stoltenberg ist nach übereinstimmenden Berichten in Sicherheit gebracht worden.
Foto: dapd/DAPD
17.30 Uhr: Auch Zivilisten helfen sich im Zentrum Oslos gegenseitig, so gut sie können. Die Zahl der Toten und Verletzten ist weiter unklar.
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17.45 Uhr: Die Sanitäter finden immer neue Verletzte, sie werden in umliegende Krankenhäuser gebracht. Nach ersten Schätzungen sind zwei Menschen gestorben und mindestens 15 schwer verletzt.
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18 Uhr: Nicht nur Regierungsgebäude sind von den Detonationen betroffen, sondern auch das Gebäude der "Verdens Gang" ("VG"), mit 240.000 Exemplaren Auflage die größte Boulevardzeitung des Landes.
Foto: dapd/DAPD
18.32 Uhr: Erste Nachrichten, dass ein Mann das Feuer auf der Insel Utoya eröffnet hat: Der Täter habe eine Polizeiuniform getragen, berichtet der öffentlich-rechtliche Fernsehsender NRK. Die Polizei entsendet umgehend Anti-Terror-Einheiten auf die Insel.
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21.30 Uhr: Die Polizei ist auf der Insel, auf der sich mehr als 600 Menschen befinden. Es ist von 20 Leichen die Rede. In der Nacht wird klar, dass mehr als 80 Menschen durch die Kugeln des Attentäters starben.
Foto: dapd/DAPD
Samstag, 23. Juli: In Oslo gelten verschärfte Sicherheitsmaßnahmen. Bewaffnete Polizei zeigt im gesamten Zentrum der Hauptstadt Präsenz.
Foto: AFP
10 Uhr: Die Insel Utoya wird evakuiert. Rettungsmannschaften versorgen die Überlebenden mit Decken und Medikamenten, auch Leichen müssen abtransportiert werden. Die Überlebenden stehen unter Schock.
Foto: dapd/DAPD
12 Uhr: Augenzeugen berichten von einem zweiten Täter auf der Insel. In Oslo nimmt die Polizei einen Mann fest, der ein Messer trägt und sich Premier Stoltenberg nähert.
Foto: dpa/DPA
14 Uhr: Ministerpräsident Stoltenberg stattet den Überlebenden und ihren Angehörigen einen Besuch ab. Er spricht von der schlimmsten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.
Foto: dpa/DPA
15 Uhr: Auch Königin Sonja (l.) ist bei den Überlebenden. Mehr als 90 Menschen sind bei den Anschlägen gestorben.
Foto: AFP
16 Uhr: Im Zentrum Oslos, wo am Tag zuvor die Sprengsätze detonierten, weht die norwegische Flagge als Zeichen der Trauer auf Halbmast.
Zur Entspannung beschäftigt er sich am PC mit Gewaltspielen. In einem dieser Spiele, in dem man gegeneinander antritt, trifft er (wahrscheinlich 2005) Caffrey von der FPU wieder. „Danke für neulich“, sagte der Spieler Breivik zu Caffrey.
Das Spiel hieß „Battlefield.2“, dabei kämpfen Soldaten mit modernen Waffen gegeneinander. „Im Manifest fiel mir auf, dass er über seine ‚Uniform’ schrieb, die aus dem Computerspiel stammte“, sagt Caffrey. Breivik beschreibt das Computerspielen als Schießtraining vor der „Aktion“.
Virtuelle Fantasiewelt oder Wirklichkeit?
Nach dem 22. Juli sitzt der Angeklagte in Isolationshaft im Ila-Gefängnis. Dem Verteidiger gegenüber beschrieb Breivik, dass er runter sei auf zehn Prozent Stärke. Er würde umkommen, wenn sich die Situation nicht ändere und er keinen Zugang zu einem PC bekomme.
Die Polizei fragt sich, ob er die virtuelle Fantasiewelt mit der Wirklichkeit vermischt hat und ob Breiviks Behauptung von einem internationalen Netzwerk der Tempelritter ein Bluff ist. Sie neigen zu dieser Annahme.
Aber Verteidiger Geir Lippestad zufolge glaubt sein Klient wirklich daran. In seinem Kopf ist er Kommandeur der Tempelritter. Aber das muss nicht am Computerspiel liegen, das kann auch ein Ausdruck eines fundamental anderen Verständnisses der Welt sein.
„Die unklare Trennung zwischen Fantasie und Wirklichkeit ist verbreitet“, meint der Psychiater Karterud. „Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass Menschen rational sind. Die Leute glauben an alles Mögliche, zum Beispiel Engel. Aber falls Breivik wirklich glaubt, dass er Kommandeur in einer Widerstandsbewegung ist, zeigt dies eine reduzierte Fähigkeit zur Realitätserfassung, die sich einer verzerrten Vorstellung nähert.“
In „2083“ wird Breiviks Selbstbild größer und größer. Er behauptet, dass der Erfolg der FPU ihm geschuldet sei, dass er einer der fünf erfolgreichsten jungen Gründer in Norwegen sei. Dass er zu den aktivsten Taggern in Oslo gehörte. Dass er ein intellektueller Meister sei. Das meiste ist inzwischen als Fantasie oder Wunschdenken entlarvt. Aber er hält an seinen Auffassungen fest, obwohl er wissen muss, dass er entlarvt wird.
Zeichen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung
Forscher sehen Zeichen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Der Narzisst ist minimal begrenzt von der Wirklichkeit und passt Fakten nach den eigenen Bedürfnissen an. Wie in „2083“. Dort beschreibt er den „Albtraum“ nach dem Terror: „Freunde und Familie werden mich verabscheuen … Die Medien werden versuchen, Charaktermord an mir zu begehen, mich als Schurken darzustellen und mich zu dämonisieren.“ Die Opfer, deren Mütter und Väter, werden nicht erwähnt.
Fehlende Empathie kann hinter einer Fassade von oft ungewöhnlich großem Verständnis und selbstaufopferndem Interesse für andere versteckt werden. Aber während der Verhöre hat Breivik wiederholt, dass er sein ganzes Leben mit zu viel Empathie geplagt war. Er begeht den Terror, weil er – so die Begründung – die künftigen Jugendlichen davor retten will, in einem islamischen Europa aufzuwachsen.
Dies ist dem Philosophen Arne Johan Vetlesen zufolge, der zu dem Begriff des Bösem und zu Völkermord geforscht hat, normal. „Personen, die Böses tun, meinen gern, dass sie in Selbstsüchtigkeit und Egoismus aufgehen, dass sie sich opfern für etwas Größeres, für die Sache, die ethnische Gruppe oder den richtigen Glauben.“
Narzisst oder nicht: Für alle auf Utøya an dem besagten Tag war die Brutalität und die Freude Breiviks daran, anderen Schmerz zuzufügen, am eindringlichsten. In den Verhören kam zutage, dass Breivik während des Massenmordes verzweifelt und frustriert gewesen sein soll – weil er zeitweilig niemanden zum Erschießen fand. „Ja!“, hörten Überlebende ihn rufen, wenn seine Kugeln trafen. Und: „Ihr sollt heute sterben!“ Und dann lautes Lachen.
"In einem Jahr bin drei Mal so bekannt wie Du"
Im Winter soll er einen TV-Prominenten in einem Lokal in Oslo angesprochen und mit ihm über Einwanderung und Kreuzritter gesprochen haben. Als der Prominente ihn ignoriert, bricht es aus Breivik heraus: „In einem halben Jahr bin ich drei Mal so bekannt wie Du!“ Dies ist das einzige Mal, wo der sehr kontrollierte 32-Jährige sein „zweites Gesicht“ offenbart haben soll.
Und er sagt nicht „doppelt so bekannt“, sondern benutzt die Zahl drei. „2083“ läuft über von Zahlen. Der Titel ist eine Zahl. Die Zukunft wird in Zahlen eingeteilt. Die Landesverräter zählt er bis 4848. Studien werden in 16.320 Stunden gemessen.
Auch die Auffassung von Frauen wird so gemessen: 99 Prozent der Frauen sind laut Breivik nur „kegelförmige Geburtsmaschinen“, ein Prozent kann er respektieren. Das Leben wird mathematisch gelesen, fast frei von Gefühlen und Nuancen.
Genauso wie Breiviks zwei Gesichter wie Tag und Nacht sind, ist sein Wirklichkeitsverständnis schwarz-weiß. Es gibt nur entweder oder. Verteidiger Lippestad sagt, dass Breivik in Bezug auf Muslime nur zwei Möglichkeiten sieht: Sie müssen entweder konvertieren oder aus Europa weggeschickt werden. Die „Kulturmarxisten“ müssen die Wahrheit erkennen oder sterben. Nach dem 22. Juli sah er für sich kommen, dass er entweder in der Akershus-Festung hingerichtet wird oder eine Heldenmedaille bekommt.
Breivik, geborener Verkäufer, Meister der Psychoanalyse
Dem Psychiater Karterud zufolge können bei Personen, die sich in einer Spur festfahren und eine schlecht ausgeprägte Fähigkeit zum kritischen Denken und Reflektieren haben, drei Haupttypen unterschieden werden: 1. Menschen mit zwangsgeprägtem Verhalten (Extremvariante: Autisten, Aspergers Syndrom), 2. Narzissten mit einem übersteigertem Selbstbild, und 3. Personen mit geringer Mentalisierungsfähigkeit, der Fähigkeit, mentale Prozesse wie Gefühle, Vorstellungen oder Wünsche zu verstehen. Breivik hat nach Ansicht von Karterud Spuren von allen drei Haupttypen.
Foto: dpa/DPA
Pflegekind, Bodybuilder, Tagger, Hip-Hopper, Computernerd, Rechtsterrorist, Islamhasser, Massenmörder: Anders Behring Breivik auf einem Polizeifoto
Foto: dpa/DPA
Pflegekind, Bodybuilder, Tagger, Hip-Hopper, Computernerd, Rechtsterrorist, Islamhasser, Massenmörder: Anders Behring Breivik auf einem Polizeifoto
Wenn etwas bei Breivik keine Zahl ist, ist es gern ein Mittel, um das Ziel zu erreichen. Im Manifest beschreibt er sich selbst als einen Meister der „Psychoanalyse“. Er sehe, was andere denken, und drücke die richtigen Knöpfe.
Mehrere Leute, mit denen er gearbeitet hat, sagen, er sei der geborene Verkäufer gewesen. Er habe die Worte gefunden, die Kunden hören wollten. Diese Fähigkeit hat er perfektioniert und ausgenutzt. Selbst sein „normales“ Gesicht wird als ein Mittel benutzt. Das Kontrollierte. Das Anständige. Das Vertrauen schaffende.
Wegen der Bombe in Oslo bin ich gekommen, um euch zu schützen, sagt der Mörder, um auf Utøya zu bluffen. Religion ist nur ein Mittel, um Europa gegen den Islam zu vereinen. Anabole Steroide sind ein Mittel, um die Furcht zu dämpfen und die Aggression vor dem Angriff zu erhöhen. Alles stellt sich als Mittel zu seiner Verwendung dar. Und so wird das Morden zum Schluss nur ein PR-Mittel.
"Auf dem Höhepunkt hatte ich alles"
Aus „2083“: „Unsere Schockangriffe sind Theater, und Theater wird immer vor einem Publikum aufgeführt.“ Er „budgetiert“ mit einer Anzahl von Toten, sagt er im Verhör. Tötet er weniger als angenommen, „wird das Budget gesprengt“. Das Einzige, was ihn wirklich tief beschäftigt, ist die Geschichte, wie er sie sieht, und sein extrem wichtiger Platz in ihr.
„Als ich auf dem Höhepunkt war, hatte ich alles“, schreibt er in 2083. „Ich war ressourcenstark, ökonomisch privilegiert, gut ausgebildet, in guter Form und zufrieden mit meinem Aussehen. Aber als ich meine Millionen verdiente, sah ich ein, dass ich oberflächlich in einer Konsumgesellschaft lebte, wo alles nur darum ging, das Ego zu füttern.“
In „2083“ entwickelt sich das ideologische Motiv zu einer religiösen Bekehrung. Er steht als erlöst da. „Das Wort Konspirationstheorie wird oft assoziiert mit etwas Negativem“, schrieb er in dem islamkritischen Forum Document.no. „Aber in der Realität sind es oft zentrale Wahrheiten, für die vorläufig die Belege fehlen. Mit der Zeit wird die Wahrheit für ALLE zutage kommen.“
Die „Wahrheit“ ist in seinem Kopf, dass sich Europa dem Jüngsten Gericht nähert, dass die norwegische Elite Mitläufer des Feindes ist, aber dem Volk wird das Gehirn gewaschen, damit es die Wahrheit nicht sieht. In „2083“ ist es dieses Thema, das ihn rasend macht.
Bizarre Verschwörungstheorien über "Eurabia"
Das Gefühl wird verstärkt durch Konspirationstheorien der rechten Blogger über das sogenannte Eurabia: Europäische Führer sollen in den 70er-Jahren eine geheime Zusammenarbeit mit der arabischen Welt eingegangen sein, um den amerikanischen Einfluss zu begrenzen – ohne zu wissen, dass die Muslime den Westen kolonialisieren wollen. Und so sind für Breivik jene, die die Grenzen öffneten – die „Kulturmarxisten“ wie die Norwegische Arbeiterpartei und die Medien – Landesverräter.
In dieser konstruierten Wirklichkeit verwandelt er sich von einem ohne Arbeit und Ausbildung zu einem Propheten und Retter: „Ich würde lieber eine Familie gründen und mich auf die Karriere konzentrieren“, schreibt er, „aber ich kann es nicht, so lange ich mich in einem brennenden Raumschiff gefangen fühle, da ignorierst Du nicht den Brand … du löscht ihn selbst, wenn er Dich in Gefahr bringt. Du kannst nicht anhalten – denn das würde zu kollektivem Tod führen.“
Seine Schulfreundin Fronth sagt: „Ich erinnere mich an ihn als jemanden, der Dinge in Ordnung bringen wollte. Er glaubt jetzt, dass er die Welt rettet. Aber eigentlich ist es er ja, der gerettet werden muss.“ In „2083“ steht er immer fanatischer da. In den eigenen Augen steigt er als Erlöser empor.
„Unabhängig von dem, was die Propaganda über mich sagt: Ich werde immer wissen, dass ich wahrscheinlich der größte kulturkonservative Vorkämpfer Europas seit den 1950-er Jahren bin … Ich bin ein europäischer Held, ein Erlöser … ich vernichte das Böse und bringe das Licht.“ Anders Behring Breivik hat eine neue Identität gefunden. Und die ist lebensgefährlich.
Ideologie allein reicht nicht für den Terrorangriff
„2083“ wird zum Ende hin zunehmend mit Legitimation des Terrors gefüllt. „2083“ läuft zum Schluss über von „ich“, aber ein „du“ gibt es nicht. Breivik sieht auf Utøya nicht ein 16 Jahre altes Mädchen, wenn er schießt, dem Feind werden menschliche Züge genommen. Der Terrorvirus ist entstanden.
„Ideologie allein kann nicht den Terrorangriff erklären“, sagt die Psychologie-Professorin Siri Gullestad. Mangel an Sicherheit, Selbstbestätigung und Gemeinschaft in der Kindheit kann Gullestad zufolge zu einer Spaltung bei einer erwachsenen Person führen.
Die Welt kann dann ausschließlich schwarz oder weiß sein, ohne Nuancen. „Kann man sich vorstellen, dass die Vorstellungen des Utøya-Mörders von sich selbst als ein ‚europäischer Retter’ Ausdruck einer Spaltung ist, eines buchstäblich überhöhten Selbstbildnisses, das ein Verlierer-Erlebnis abwehrt?“, fragt Gullestad in einer Vortragsserie nach der Tat vom 22..Juli an der Universität Oslo.
Selbst eine Person, die Amok läuft, ist erschreckend klar und präsent, gesteuert von ihrer eigenen kalten Logik, schreibt Steven Pinker, ein weltbekannter Evolutionspsychologe in „How the Mind Works“. Männer auf Tötungszügen sind danach nicht von einer plötzlichen Eingebung gesteuert, sondern von einer Idee: Mein Leben ist auf ein Nichts reduziert durch Kränkungen, die ich nicht toleriere.
Ich habe nur noch meine Würde. Daher habe ich nicht zu verlieren, abgesehen vom Leben. Ich tausche also mein Leben gegen Dein Leben, weil Dein Leben mehr wert ist als mein Leben. Ich werde viele von Euch töten und mich aus der Gruppe erheben, deren Teil ich war.
Er hatte Fähigkeiten, nutzte diese aber nicht
In „2083“ hält Breivik Stolz und Ehre hoch. Er hat das „Licht gesehen“, aber stellt sich als gekränkt und geschwächt dar. „2083“ zufolge soll die „Aktion“ ihn wieder aufbauen. Das Problem besteht darin, dass niemand sein Leben zu einem Nichts reduziert hat.
Er hatte Fähigkeiten, aber verließ selbst das Studium und die Arbeit. Es ist seine eigene Ohnmacht, die er mit Macht auf andere übertragen will. Und jetzt ist Eile für ihn angesagt. Das Geld geht unmittelbar vor dem 22..Juli aus. Auch die Furcht, dass das Vorhaben „misslingt“, wird mit Panik und zwei Wahlmöglichkeiten beschrieben: Alles oder nichts.
„Vielleicht hat der 22. Juli neun Jahre gedauert. Jahrelang hat Breivik narzisstisch in diese Identität investiert“, sagt der Philosoph Arne Johan Vetlesen. „Es gibt keine neue Identität, die auf ihn wartet. Deshalb sieht man bei solchen Leuten selten Reue.“
Am 14. November erscheint Breivik vor dem Amtsgericht Oslo zu einem Haftprüfungstermin. Vorab hatte es Kritik daran gegeben, dass das Gericht diesen persönlichen Auftritt zuließ, zu groß war die Angst, er könne ihn für seine Propaganda und Rechtfertigung nutzen. Als er erscheint, starren ihn alle an.
"Ich bin Kommandeur und Tempelritter"
Breivik trägt einen getrimmten Bart, einen dunklen Anzug und ein Hemd mit Manschettenknöpfen, sein Haar ist ordentlich gekämmt. Er fummelt mit einem Zettel herum. Öffnet ihn. Schließt ihn. Beißt sich auf die Lippen. Die Augen wandern, aber fixieren nichts.
Es ist so, als ob sein Körper da ist, aber er nicht. Wer ist dieser Mann? Dann öffnet er den Mund und sagt mit weicher und ruhiger Stimme: „Ich bin Kommandeur und Tempelritter.“ Sein zweites Gesicht tritt hervor. „Kann ich etwas zu den Betroffenen sagen?“, setzt er fort. „Nein, das können Sie nicht“, sagt der Richter. „Na gut“, äußert er enttäuscht, fast überrascht.
Was wollte er ihnen sagen? Vermutlich, dass die Hinterbliebenen ihm danken sollten. Dass die toten Kinder und Jugendlichen Märtyrer seien. Dass sie einer guten Sache geopfert wurden und dass man sehen müsse, dass er, indem er einige Wenige tötete, tausende Leben in der Zukunft gerettet hat.
Er steht da mit einem Ich, dass so unfassbar groß und so unendlich klein ist, in Fußfesseln, zum Schweigen ermahnt. Er hat im Abgrund gesucht und sich selbst verloren. Er fand den Kommandeur Breivik, einen Mörder.
Der Artikel erschien zuerst in der norwegischen Zeitung "Aftenposten". Wolfgang Köster hat ihn für "Welt Online" übersetzt.