Alte Schachtel trifft üblen Kerl – Nordwest

Hamburg
Warum meint man, andere Menschen besser zu kennen als sich selber?


Fast eine Preisfrage, doch für die Verblödungsstrategien des Fernsehens ungeeignet. Also: Warum glaubt man an die eigene Menschenkenntnis dem anderen gegenüber? Wohl weil man einen (falschen?) Fundus von Charakteristiken in sich trägt, gespeist von literarischer Lektüre, von oberflächlichen Kenntnissen der Psychologie, vom Hörensagen, von zweifelhaften Erfahrungen, auf jeden Fall von Wissen meist aus zweiter Hand.

Hinzu kommt unsere Ordnungssucht, der Zwang, einen Menschen, dem wir begegnen, in ein uns bekanntes Schema einzuordnen. Wir urteilen (und verurteilen) immer noch anhand veralteter Charakteristika: Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker.

Die Typisierung ersetzte das genauere Nachdenken. Gleichermaßen wurden den unterschiedlichsten Völkerschaften oder Nationen Eigenschaften zugeteilt, die scheinbar den Umgang mit ihnen erleichterten. Und das war dann so: Franzosen waren leichtlebig, Engländer verschlossen, Deutsche ehrlich, Spanier stolz, Russen sentimental.

Man wusste, woran man mit den Leuten war. Und im jeweils einzelnen Fall half das angelesene Pseudowissen nach. Ich würde das nicht mal Vorurteile nennen, denn durch die Charakterisierung vereinfachte sich der Umgang mit dem Anderen, er musste nicht einmal aus gänzlich fremden Bereichen stammen. Denn das wirkliche Wissen über einen Mitmenschen, oft sogar einen sehr nahen, gar einen Nachbarn, einen Verwandten, hinderte stets der Blick aus der eigenen Individualität.

Dass jeder Mensch anders sei, ist erst eine sehr späte Einsicht aus Zeiten, da sich überhaupt so etwas wie Individualität zu bilden begann. Die Einfachheit der Einteilung, als wir noch Teile eines ethnischen Corpus gewesen sind, jede Reaktion absehbar, jeder Blick deutbar, jedes Zwinkern verständlich, jede Handbewegung logisches Zeichen, ist schon lange dahin.

Doch klammern wir uns unbewusst immer noch an äußere Merkmale, die missverstanden zu haben, wir manchmal enttäuscht sind: Der X. sieht doch gar nicht wie ein Mörder aus! Und ist eine schöne Frau nicht auch immer die Güte selbst? Ich habe dem Falschen vertraut. Dieses Weib hat mich enttäuscht. Der Kerl hat sich als anständiger Mann entpuppt. Wer hätte denn gedacht, dass diese alte Schachtel heimlich Verfolgte versteckt? Dass jener Priester sich garantiert an Ministranten vergreift?

Man erwartet, auch bedingt durch eine entsprechend manipulierte Bilderflut, dass Kriminelle wie Kriminelle aussehen und brave Retter wie brave Retter. Da unser von uns sorgsam gehegtes Selbstbildnis ein fataler Zerrspiegel ist, wir uns ergo immer für besser halten als wir im Grunde sind, übertragen wir unsere Fehleinschätzungen eben unbemerkt auf andere.

Uns wird niemals bewusst, wie stark wir durch Fremdeinwirkung geformt und verformt wurden und in welchem überwältigenden Maße wir Fiktionen auf andere, in deren Inneres wir niemals dringen können, wie selbstverständlich projizieren. Der uns anscheinend Gleichartige verdient unsere Sympathie – falls wir nicht in der peinlichen Situation des Selbsthasses stecken.

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