Als erstes muss man sich richtig verprügeln lassen

"Meine Eltern haben damals sehr viel gearbeitet und waren immer erst spät abends zu Hause. Ich war also nach der Schule die meiste Zeit einfach allein", sagt Gunnar Rotkopf (Name geändert), der als Jugendlicher mehrere Jahre Mitglied in einer Straßengang war. "Wenn man dort mit dabei ist, ist man im Grunde ein Gesetzloser. Man fühlt sich, als könnte man tun, was immer man will, und nichts kann passieren, weil man geschützt ist. Man fühlt sich unberührbar."

Gangs sind ein Großstadtphänomen. Sie arbeiten im Untergrund, ihr Arbeitsplatz ist die Straße. Es geht um Drogen, um Macht und um Geld. Nach Albert Cohen, Autor des 1956 erschienenen Buches "The culture of the gang" und einer der ersten Wissenschaftler, der sich mit diesem Thema beschäftigte, brauchen Gangs bestimmte Bedingungen, um entstehen und bestehen zu können.

Wichtig ist Cohen zufolge eine Gesellschaft, die in soziale Klassen unterteilt ist. Diese Klassen müssen soweit durchlässig sein, dass Menschen aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten sozial sowohl aufsteigen als auch absteigen können.

Wenige Begabungen, viele Misserfolge

Vor allem für junge Männer entsteht so ein Problem: Sie würden gern einen höheren sozialen Status einnehmen, sind sich aber ihrer nicht besonders vorteilhaften Ausgangsposition bewusst.

Hier teilen sich dann die Wege: Die einen sehen die Möglichkeit, über eigene Stärken wie gute Leistungen in der Schule oder sportliches Talent zu einem höheren Status zu kommen. Ihre Fähigkeiten verhelfen ihnen gleichzeitig auch zu einem ausgewogenen Selbstwertgefühl.

Wer jedoch glaubt, nur wenige Begabungen zu haben, und etwa in der Schule kontinuierlich Misserfolge sammelt, dessen Selbstwertgefühl ist schnell am Boden, wie bereits verschiedene Studien zeigen konnten. Die Hoffnung, etwas im Leben erreichen zu können, schwindet, und darüber hinaus macht es diese jungen Menschen auch oft zu einer Zielscheibe für Mobbing.

Viele Gangmitglieder aus Migrantenfamilien

Gibt es jedoch genügend andere Jugendliche im gleichen Alter, die mit dem gleichen Problem zu kämpfen haben, können sie sich zusammenschließen. Das hat mehrere Vorteile. Denn Gangs sind ein schneller Weg, um eine Identifikation, Respekt, Selbstachtung, Schutz und auch materielle Ressourcen zu erlangen.

So erreichen die Jugendlichen einen sozialen Status, der ihnen sonst verwehrt bleiben würde, wie sie, oft auch zu Recht, glauben. Nicht ohne Grund stammen viele Gangmitglieder aus Migrantenfamilien, deren Kinder es oft schwerer haben als andere, in der Schule und dem unmittelbaren sozialen Umfeld soziale Anerkennung zu erlangen. Dieses Phänomen lässt sich weltweit beobachten, allen voran in den USA, wo fast die Hälfte aller Gangs rein latein- und mittelamerikanisch geprägt ist.

Eine Gang rechtfertigt auch Feindseligkeiten und Aggressionen gegen jenen, die die eigene Selbstachtung untergraben haben oder es versuchen. Außerdem sind die Schuldgefühle für Gewalttaten und andere kriminelle Aktivitäten kleiner, wenn die Verantwortung auf die gesamte Gruppe verteilt wird, wie Wissenschaftler inzwischen herausgefunden haben.

Abstecken des Territoriums

Kriminologische Studien belegen, dass für Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl Kriminalität ein Weg sein kann, die Selbstachtung zu erhöhen. US-Forscher fanden bereits Ende der 90er-Jahre an 430 Highschool-Schülern aus benachteiligten sozialen Schichten heraus, dass jene mit geringerem Selbstwertgefühl häufiger Mitglieder in Gangs wurden als andere.

Gewalt nimmt eine besondere Stellung im Werte- und Normgefüge einer Gang ein: Oft ist sie prägend für die Identität und das Selbstverständnis der Gruppe. Gewalt ist der Weg, mit dem Ressourcen erobert, Mitglieder verteidigt und Respekt im Umfeld erlangt wird. Und sie ist der Weg, das eigene Territorium abzustecken und zu erweitern – der wichtigste Bezugspunkt jeder Gang.

"Je mehr Straßen man kontrolliert, desto mehr Drogen kann man verkaufen und desto mehr Geld kommt rein", erklärt Gunnar Rotkopf, "deshalb markiert jede Gang ihr Gebiet, zum Beispiel mit Graffiti-Tags. Wenn man einen anderen Tag in der Gegend findet, die man für seine hält, dann gibt es Probleme", erklärt er.

Mathematisches Modell für Gang-Grenzen

In einer jüngst in der Fachzeitschrift "Criminology" veröffentlichten Studie untersuchten US-Forscher nun, wie sich die Reviere von Gangs herausbilden und weiter entwickeln, und zwar abhängig von den Charakteristiken der eigenen und der rivalisierenden Gang.

Der Anthropologe Jeffrey Brantingham von der University of California in Los Angeles analysierte dafür zusammen mit Kriminologen und einem Mathematiker 563 Schießereien, die in den Jahren 1999 bis 2002 zwischen verfeindeten Gangs in Los Angeles stattfanden. 13 von 29 dort bekannten rivalisierenden Straßengangs der Gegend waren an diesen Schießereien beteiligt. Das zeigt bereits, so Brantingham, dass einige Gangs vor Ort weitaus gewaltbereiter waren als andere, und dabei anscheinend oft auch auf die gleichen Gegner trafen.

Die Wissenschaftler sagten die für Beobachter oft unsichtbaren Grenzen des Territoriums mit einem besonderen mathematischen Modell vorher. Die "Lotka-Volterra" Simulation stammt eigentlich aus der Biologie und wird üblicherweise dazu genutzt, Reviergrenzen im Tierreich vorherzusagen. Man kann damit zum Beispiel untersuchen, wie bei einem sich teilenden Bienenschwarm die zwei neu entstandenen Völker ihre Gebietsansprüche durchsetzen.

Schärfere Reviergrenzen

Den Wissenschaftlern war wichtig zu verstehen, ob die Reviergrenzen eventuell die Funktion haben, das Level der Gewalt zwischen den Gangs niedrig zu halten. Bisher war man eher davon ausgegangen, dass das Abstecken des Territoriums die Aggressivität gegenüber anderen Gangs erhöht – als Folge der Verteidigung des Gebietes.

Die Studienergebnisse bestätigten ihre Vermutung: Je stärker die Rivalität zweier Gangs war und je ebenbürtiger sie sich waren, desto schärfer waren auch ihre Reviergrenzen definiert und desto weniger gewalttätige Übergriffe gab es auf Mitglieder der jeweils anderen Gang.

Diese territorialen Grenzen waren im Modell außerdem die stabilsten. War aber eine Gang deutlich stärker oder schwächer als die andere, fiel die Grenze unschärfer aus. Dadurch gab es auch mehr Konflikte und Aggressionen in den sich überlappenden Grenzgebieten. "Stabile Territorien bedeuten nicht automatisch, dass die Gangs sich ständig im Krieg befinden", schreiben die Autoren. "Das Ausmaß der Konflikte ergibt sich eher aus dem Grad der Überlappung der Grenzen."

Konflikte innerhalb der Gang

Letztlich, so sagen sie, werde eine schwächere Gang fast immer vertrieben, aufgelöst oder integriert. "Kleinere Gangs sind keine Bedrohung", bestätigt auch Gunnar Rotkopf. "Meistens werden sie ohnehin später zu einem Teil der größeren Gang."

Damit eine Gang dieses Schicksal nicht ereilt, ist es wichtig, dass ihr Ansehen, ihre Macht und die Zahl der Mitglieder stabil sind. Jede Veränderung in der Struktur der Gang kann schnell territoriale Konsequenzen haben, schreiben die Studienautoren. Absolute Loyalität und lebenslange Mitgliedschaft ist deshalb nicht ohne Grund bei vielen Gangs selbstverständlich. Wer sich nicht daran hält, wird zum Feind.

Allerdings sei es auch wichtig, erklärt Brantingham, dass Konflikte innerhalb der Gang nicht größer werden als Konflikte mit rivalisierenden Gangs, denn auch das bedroht ihre Existenz. Mitglied zu werden ist deshalb oft an harte Bedingungen und Feuerproben geknüpft, damit sich jeder vorher genau überlegt, worauf er sich einlässt.

Senkrecht zum Hauptquartier

In ihrem Modell gingen Brantingham und seine Kollegen davon aus, dass sich Reviergrenzen immer senkrecht zum Zentrum des Gang-Hauptquartiers entwickeln. Das kann eine Straßenecke sein, ein verlassenes Gebäude, in dem Drogengeschäfte leicht abgewickelt werden können, oder schlicht ein Wohnhaus. "Unser Ausgangspunkt war immer das Haus eines der Gang-Mitglieder", sagt Rotkopf. "Seine Eltern waren ebenfalls in der Gang und durch ihr Alter und ihre Erfahrung weit oben in der Hierarchie. Da wurde meist alles besprochen und die Aufgaben für jeden verteilt."

Bei der Analyse ergab sich schließlich, dass die meisten Konflikte sich jeweils innerhalb von einem Kilometer um die Reviergrenze abspielten, und zwar je intensiver und häufiger, je näher man der Grenze kam. In der Tat verlief die Grenze senkrecht zum Hauptquartier.

"Gewalt gehört dazu"

Für Kriminologen und die Polizei haben diese Befunde eine große Bedeutung. Finden sie heraus, wo das Zentrum der Gang liegt und wie scharf die Reviergrenzen sind, können sie jetzt abschätzen, welche Gangs miteinander im Clinch liegen und wie stark sie sind – Wissen, das sonst schwer zugänglich ist. Auch den Ort des Hauptquartiers können sie nun aus der Verteilung und Häufigkeit der Übergriffe schätzen.

Gunnar Rotkopf hat die Gang-Zeiten inzwischen hinter sich. Er kam mit dem gleichen Ritual wieder heraus, mit dem ihn die Gruppe auch aufgenommen hatte: Er musste sich von den Mitgliedern einmal widerstandslos verprügeln lassen. "Gewalt gehört eben immer einfach dazu", sagt er achselzuckend.

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"Uhrwerk Orange" von Stanley Kubrick

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