Achilles’ Ferse: "Ausdauersport ist ein Sport für Arbeiter"

SPIEGEL ONLINE: Herr Frankenbach, Sie haben die psychologische Dimension des Sports untersucht. Wie würden Sie den klassischen Läufer charakterisieren?

Frankenbach: Ausdauersport ist ein Sport für Arbeiter. Läufer bewegen sich aus eigener Kraft nach vorne. Die Bewegungen sind monoton, das muss man mögen. Im Vordergrund steht die Beharrlichkeit. Läufer sollten sich aber fragen: Wie ist es um meine Genussfähigkeit bestellt? Denn daran hapert es oft.

SPIEGEL ONLINE:
Läufer haben also Probleme, das Leben zu genießen, wie zum Beispiel Surfer.

Frankenbach: Das ist mir zu plakativ. Mir geht es nicht darum, zu sagen: Du bist Läufer, deswegen bist du so und so. Mir geht es darum, dass man seine eigenen Lieblingssportarten reflektiert und erkennt, warum man sie so gerne macht - es geht um Selbsterkenntnis.

SPIEGEL ONLINE:
Laufen ist monoton und erinnert an Arbeit. Wie kommt es, dass Ausdauersport so boomt?

Frankenbach: Arbeitsrituale sind per se keinesfalls negativ. Sie können ein Zeichen dafür sein, dass wir produktiv durchs Leben gehen. Außerdem haben viele die Erfahrung gemacht, dass Laufen ihnen körperlich und seelisch gut tut.

SPIEGEL ONLINE:
Warum tut Laufen der Seele besser als Kugelstoßen?

Frankenbach: Monotone Bewegungsmuster dienen dazu, mit sich in Einklang zu kommen. In vielen Religionen nutzt man solche Bewegungen, um sich zu zentrieren. Christen zum Beispiel pilgern stundenlang, um ihre Mitte zu finden, Buddhisten machen aus dem Pilgern eine Art Ganz-Körper-Work-out. Sie laufen drei Schritte, knien dann nieder, verbeugen sich, stehen wieder auf - das machen sie jeden Tag stundenlang, über Wochen - und finden so auch ihr seelisches Gleichgewicht wieder.

SPIEGEL ONLINE: Ist Sport eine Art Ersatzreligion geworden?

Frankenbach: Für einige Menschen ist er das sicher. Auf der ganzen Welt widmen die Menschen viele Stunden ihrer kostbaren Zeit dem Sport. Gleichzeitig greifen vielerorts die althergebrachten abstrakten und moralischen Wertesysteme weniger als früher. Der Einfluss der traditionellen Religionen schwindet. Andererseits wird Sport zum Massenphänomen, er gibt den Leuten etwas. Dass da auch religiöse Sehnsüchte eine Rolle spielen, zeigen Begriffe wie Laufpapst, Fitnessjünger oder Ernährungsbibel. Ob Sport allerdings ein gebührender Religionsersatz ist, daran zweifle ich.

SPIEGEL ONLINE: Jugendliche tendieren eher zu Fun-Sportarten wie Skaten, Unternehmer oder Manager eher zum Joggen. Warum ist das so?

Frankenbach: Dem Jugendlichen geht es womöglich um Ausdruck seiner Lebensgefühls, der Geschäftsmann sucht vielleicht Ausgleich zum Berufsleben. Themen aus dem Alltag werden in den Sport verlagert. Ein Großteil der Läufer übt einen Sport aus, weil dieses An-was-Dranbleiben eine konsequente Übertragung ihrer Lebensprinzipien in den Sport ist. Sport kann ein Spiegelbild des Lebens sein. Bin ich im Leben oder im Beruf beharrlich und beweise Ausdauer, so zeige ich dies womöglich auch beim Sport.

SPIEGEL ONLINE: Aber Skater müssen doch auch üben, um gut zu werden.

Frankenbach: Alle Sportler eint, dass sie sich immer wieder einer Sache zuwenden. Skater nutzen die Gravitation und machen sich die Elemente zunutze. Das Sich-Bewegen geschieht weniger aus Eigenantrieb, hier ist eher Feinmotorik und Kreativität gefragt. Noch ein großer Unterschied: Der Skater hat Spaß, während er Skateboard fährt.

SPIEGEL ONLINE: Und die Läufer haben keinen Spaß?

Frankenbach: Doch, sicher auch. Aber sie sähen beim Training auch Samen, die Früchte werden aber erst später eingefahren. Irgendwann merkt man, jetzt komme ich leichter die Treppe rauf oder bin nicht mehr so schnell gestresst. Solche Sportarten sind meist Themen für Menschen, die anfangen, verantwortungsvoll mit sich und ihrem Körper umzugehen. Arbeit und Produkt. Sie schuften auf der Strecke, in der Muckibude - den Gewinn haben sie später. Das macht diese Sportarten attraktiv.

SPIEGEL ONLINE: Es gibt immer wieder Menschen, die im Alltag lieb und nett sind, auf dem Fußballplatz aber unfaire Ekelpakete. Wie erklären Sie sich das?

Frankenbach: Carl Gustav Jung, ein Schüler Freuds hat gesagt: "Es gibt den Schatten in uns." Bestimmte Aspekte, die wir sonst gerne verdrängen - und die womöglich im Sport zutage treten dürfen. Der Spieler lebt seine Aggressionen auf dem Platz aus, weil es hier okay und sozial anerkannt ist, aggressiv zu sein. Würde er das gleiche Verhalten am Arbeitsplatz zeigen, würde es schwierig.

SPIEGEL ONLINE: Wie unterscheiden sich typische Männer- und Frauensportarten?

Frankenbach: Männlich dominierte Sportarten wie Motorsport sind häufig echte Wettkampfsportarten, wo es auf das archetypische Wetteifern, Sich-Messen-Wollen ankommt. Männer wollen einen möglichst objektiven Vergleich, ein Ranking: eine bestimmte Zeit erreichen, eine gewisse Anzahl von Toren schießen. Bei weiblich dominierten Sportarten wie Rhythmische Sportgymnastik sehen wir eher subjektive Formen der Bewertung wie Noten.

SPIEGEL ONLINE: Warum sollten Menschen ihren Sport überhaupt analysieren?

Frankenbach: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Häufig ist es so, dass Menschen mit einem neuen Lebensthema auch eine neue Sportart beginnen oder intensivieren. Wer sich selbst reflektiert, gibt Licht zum Schatten und steigert sein Wohlbefinden. Je höher die Selbsterkenntnis, desto höher ist auch die Chance, ein angenehmes Leben zu führen.

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