Abschied vom Aufschieben

Seit Tagen müsste die Präsentation für die Vorstandskonferenz vorbereitet werden. Der Chef hatte auch schon nachgefragt. Immer wieder denkt man kurzzeitig über diese wichtige, aber zunehmend lästig werdende Aufgabe nach. Aber der Startschuss will einfach nicht fallen. Stattdessen werden Routinearbeiten erledigt, E-Mails beantwortet, der Schreibtisch wird aufgeräumt. Getreu dem Motto: Unwichtiges zuerst. Dass Dinge statt erledigt, lieber aufgeschoben werden, nervt viele Arbeitnehmer selbst. Aber den inneren Schweinehund zu überwinden, ist gar nicht so einfach.

Prokrastinieren könne zu erheblichen Problemen führen, sagt der Berliner Diplom-Psychologe Hans-Werner Rückert. "Im schlimmsten Fall können Aufschieber ihren Job verlieren oder ernsthafte seelische Probleme davontragen. Wer sich immer wieder Dinge vornimmt, aber dann doch nicht erledigt, kann in eine verzweifelte Lage kommen", so Rückert. "Das Selbstwertgefühl kommt ins Wanken. Die Umwelt nimmt den Betroffenen als unzuverlässig wahr."

Problematisch werde es dann, wenn mehr Dinge aufgeschoben als erledigt würden, sagt Fred Rist. Er ist Psychologieprofessor von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. "Und wer über längere Zeit nicht mehr zurechtkommt, kann dadurch depressiv werden." Bei Studenten, die die Regelstudienzeit weit überschritten, sei Prokrastination zum Beispiel oft mit Depressionen verbunden.

Gut erforscht ist die Aufschieberitis unter Studierenden. Verschiedene Wissenschaftler machen eine weite Verbreitung in dieser gesellschaftlichen Gruppe aus. Sechs von zehn Studenten leiden darunter, belegt eine repräsentative Studie der Pädagogischen Hochschule Freiburg. 736 Studierende wurden zu ihrem Lernverhalten befragt. Das Ergebnis: 58 Prozent schieben regelmäßig Arbeit vor sich her. 60 Prozent flüchten zudem in das typische Ausweichverhalten: indem sie Hausarbeiten erledigen wie Fensterputzen, im Internet surfen oder telefonieren, erläutert Studienautorin Karin Schleider, die Professorin am Institut für Psychologie ist.

Auslöser für das Verhalten sind häufig bevorstehende Prüfungen: An erster Stelle steht dabei die Vorbereitung mündlicher Prüfungen (49,4 Prozent), gefolgt von Klausuren (44,7 Prozent) und der Abgabe von Arbeiten (41,6 Prozent).


Hans-Werner Rückert, der die Studienberatung und die Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin leitet, kann dies ebenfalls bestätigen: Zweifelsohne seien jedoch die Freiräume für Studierende mit dem Einzug von Bachelor und Master weniger geworden.

Wer Freiräume hat, könne leichter aufschieben - auch nach dem Uni-Abschluss, sagt der Psychologe. Aber sogar unter Rechtsanwälten gebe es Aufschieber, die sich beispielsweise trickreich des Mittels der Fristverlängerung bedienen. "Das vermutet man bei dieser Berufsgruppe eher nicht", so Rückert. Chronisches Aufschieben wird von Psychologen als Prokrastinieren bezeichnet, abgeleitet von dem lateinischen Wort procrastinare (deutsch: etwas vertagen oder verschieben).

Die Forschung unterscheidet zwei Typen: die Erregungsaufschieber, denen ihr Verhalten einen Kick bringt, und die Vermeidungsaufschieber, die mit einer Aufgabe unangenehme Dinge verbinden. Das gesamte Spektrum an unangenehmen Gefühlen wie Ärger, Wut, Konfrontation mit der eigenen Unzulänglichkeit können hierbei eine Rolle spielen.

"Angst kann motivieren und einen dazu veranlassen zu handeln. Angst kann aber auch zum Aufschieben führen. Wenn Sie Angst haben, kann es sein, dass Sie wichtige Dinge aufschieben, beispielsweise um eine Gehaltserhöhung zu bitten", schreibt Hans-Werner Rückert in seinem Buch "Schluss mit dem ewigen Aufschieben" (erschienen im Campus-Verlag). "Sie ersparen sich damit die Furcht vor dem Chef, der Verhandlung und Ihren Gefühlen, falls Ihr Wunsch abgelehnt werden sollte. Aber als Folge Ihres Aufschiebens können Sie wiederum mit Angst konfrontiert sein, dann nämlich, wenn Sie wissen, dass Ihr jetziges Gehalt nicht ausreicht, um davon die gestiegene Miete und die Raten für Ihr neues Auto zu bezahlen." So gilt es die Angst zu überwinden. Und das gelinge am besten, wenn man das tut, wovor man Angst hat.

Für Karin Schleider liegt in der Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Problemlösung. Der Betroffene müsse das Problem erkennen und die Motivation entwickeln, wirklich etwas daran ändern zu wollen.

Selbstakzeptanz kann weiterbringen. "Bewerten Sie sich nicht global, sondern bewerten Sie spezifisch einzelne Verhaltensweisen. Hören Sie auf, sich als Aufschieber zu bezeichnen", empfiehlt auch Hans-Werner

Rückert. "Bislang haben Sie aufgeschoben, um Entscheidungen, Aufgaben und Vorhaben zu entfliehen, die Ihr Selbstwertgefühl bedrohten und unangenehme Gefühle auslösten. Wenn Sie künftig standhalten wollen, dann müssen Sie mit diesen Emotionen anders umgehen." Unter Aufschiebern finden sich viele, die immer alles perfekt machen müssen. Der Psychologe rät stattdessen: "Streben Sie hervorragende Ergebnisse statt perfekte an. Verabschieden Sie sich von dem Mythos, alles schaffen und mit 33 Terminen gleichzeitig hantieren zu können." Auch einfache to-do-Listen, auf denen verzeichnet wird, was am Tag zu erledigen ist, halten Experten für hilfreich.

Aufklärung und Selbstaufklärung helfen, das Problem zu lösen, glaubt Rückert. "Man kann auch seinen Seelenfrieden finden, indem man große Vorhaben wie eine Doktorarbeit, die man jahrelang vor sich herschiebt, ganz aufgibt. Ein Schlussstrich zu ziehen, kann auch befreiend sein." In einer psychologischen Beratung werde das ganz konkrete Aufschiebeverhalten genau angeschaut. Der Berater stellt Fragen wie: 'Will der Betroffene tatsächlich etwas ändern? Worin liegt die Motivation?' erläutert der Psychologe.

Wem Prokrastination schwer zu schaffen macht, der sollte sich professionelle Hilfe holen. "Wer beispielsweise über Jahre hinweg sehr unglücklich im Job ist, unter psychosomatischen Beschwerden leidet, aber keine Problembewältigung in Aussicht hat, sollte sich Hilfe holen: bei einem Coach oder einem Psychologen", sagt Hans-Werner Rückert.

Situativen Aufschiebern kann es aber durchaus gelingen, aus eigenem Antrieb ihr Verhalten in den Griff zu bekommen, glaubt Buchautor Hans-Werner Rückert. "Den einfacheren Fällen würde ich raten: Bleib an deinem Schreibtisch sitzen, stell dir einen Wecker und die einzige Aufgabe ist es, 20 Minuten sitzen zu bleiben. Dann gibt es einen Tee zur Belohnung."

Den Belohnungsaspekt hebt auch die Freiburger Psychologieprofessorin Karin Schleider hervor: "Ganz wichtig, auch wenn es sich noch so banal anhört: Belohnen Sie sich. Loben Sie sich selbst, gönnen Sie sich eine Süßigkeit oder einen Kinobesuch."

Leave a Reply