Abgestempelt: Was können wir aus dem Fall Gustl Mollath lernen?


Ein kritischer Blick auf die Psychologie der Institutionen

Gustl Mollath saß sieben Jahre lang zu Unrecht in der Zwangspsychiatrie. Ist eine institutionelle Entscheidung erst einmal getroffen und in Kraft getreten, dann lässt sie sich nur schwer korrigieren. Dabei ist die Neigung, Menschen auf eine bestimmte Weise abzustempeln, nur allzu menschlich und betrifft uns alle. Unter Bedingungen der ökonomischen Rationalisierung werden Fehler wahrscheinlicher, deren psychischen Kosten das betroffene Individuum tragen muss. Auch diese Folgen betreffen uns alle.

Bild: Magnus Gertkemper/CC-BY-SA-2.5

Am 14. August 2014 wurde der sieben Jahre lang zwangsweise in der Psychiatrie untergebrachte Gustl Mollath freigesprochen. Zwar urteilte das Regensburger Gericht, er habe seine damalige Frau im Jahr 2001 schwer misshandelt, von weiteren Anklagepunkten wie dem gefährlichen Zerstechen von Autoreifen sprach es Mollath jedoch frei.

Vor allem stellte das Gericht aber fest, dass Mollath die sieben Jahre zu Unrecht in der Psychiatrie untergebracht war, denn es habe bei ihm keine Geisteserkrankung vorgelegen. Die Vorwürfe, der Angeklagte sei wegen seiner Ankündigung, einen großen Steuerbetrug aufdecken zu wollen, und durch politische Einflussnahme aus dem Weg geräumt worden, wurden vor Gericht nicht geklärt.

Abgestempelt

Nachdem an anderen Stellen schon so viel über den Fall geschrieben wurde, soll es hier um einen theoretischen Aspekt gehen, der bisher weniger im Rampenlicht stand: Nämlich die Psychologie der Institutionen Recht und Psychiatrie, insbesondere wie damit umgegangen wird, wenn über einen Menschen erst einmal ein (Vor-) Urteil gefällt wurde, das ihn als Verbrecher und/oder Verrückten abstempelt.

Abstempeln, englisch labeling, scheint etwas Allzumenschliches zu sein: So listet das Deutsche Wörterbuch nicht weniger als einundneunzig Einträge, die mit "Stempel" beginnen, ziehen sich die Erklärungen von Stempel über Stempelfreiheit und den strafrechtlich verfolgten Stempelnachmacher bis schließlich zum Stempelzug über zweiundzwanzig Spalten des achtzehnten Bandes. Vom Stempeln erfahren wir, dass es schon lange im heute auch gebräuchlichen bildlichen Sinn verwendet wird, etwa in

wer den Germanen zum halben wilden stempeln möchte, lese dieses werk und mache andere schlüsse.

oder im Zusammenhang mit dem körperlichen Äußeren in

hört doch, ihr habt da einen zug um den mund, der euch zum heuchler stempelt.

oder auch in einem etwas abstrakteren Sinn in

nur die ausführung stempelt den entschlusz, der bis dahin immer nur noch veränderlicher vorsatz ist.

Das Stempeln hat damit zugleich etwas Kennzeichnendes und etwas Endgültiges, so wie die heute durch die Ausbreitung des Druckwesens wohl seltener werdende echte Stempeltinte nur mit Mühe und vielleicht gar nicht ohne Beschädigung aus dem Originaldokument entfernt werden kann.

Im Gespräch mit Abstemplern

Solch figürliche Abstempler (natürlich sind nicht alle so) hatte ich kürzlich vor und neben mir sitzen, als ich nach einer wissenschaftlichen Tagung zwischen einigen Psychiatern saß, von denen einer auch als forensischer Gutachter arbeitet. Freilich stand seine Zunft durch den Fall Mollaths in keinem guten Licht da; anders als der vom Regensburger Gericht bestellte Gutachter Norbert Nedopil, der sich in Zurückhaltung übte und die Unsicherheiten des Falls hervorhob (Mollath - penetrant, aber nicht gestört), war sich dieser Psychiatrie-Professor seiner Sache sicher: Mollath sei wohl wahnhaft gestört - und wahrscheinlich gefährlich.

Dafür reihte er eine Reihe von Indizien aneinander, die er allem Anschein nach hauptsächlich der Presse entnommen hatte. Solche Diagnoseversuche aus der Ferne sind nicht nur oberflächlich, sondern auch müßig. Sie sind vor allem rückblickend mit größter Vorsicht zu genießen, denn die Labeling-Theorie hat schon lange gezeigt, dass es dabei häufig zu Reinterpretationen kommt.

Soziologische Labeling-Theorie

Ist ein Stempel wie "Depressiver", "Verbrecher" oder "Wahnsinniger" erst einmal aufgedrückt, dann besteht das Risiko, dass ein Lebenslauf in einem völlig neuen Licht gesehen wird. In den Worten des Soziokriminologen Edwin Schur:

Retrospective interpretation is the process by which once an individual is identified as deviant, he is seen in a totally "new light." The very category "delinquent" invests an individual with distinguishing personal characteristics, and also a completely new personal identity.

Durch das Abstempeln eines Menschen zum Delinquenten werde also eine neue Identität geschaffen. Mit einem Zitat des Soziologen Harold Garfinkel präzisiert Schur dies wie folgt:

The work of the denunciation effects the recasting of the objective character of the perceived other: The other person becomes in the eyes of his condemners literally a different and new person. It is not that the new attributes are added to the old "nucleus." He is not changed, he is reconstituted. … The former identity stands as accidental; the new identity is the "basic reality." What he is now is what, "after all," he was all along.

Vom Stempel zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung

Durch den Akt der Reinterpretation werde der Mensch nicht verändert, sondern neu gemacht; sein Kern werde überschrieben. Schur gibt zu bedenken, dass wahrscheinlich im Leben von jedem von uns so viele negative Aspekte zu finden sind, dass, würde man sich nur darauf konzentrieren, man uns alle in einem schlechten Licht darstellen könne. So kann eine beliebige Denunziation freilich schnell zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.

Vielleicht war es nur ein einziger Fehler, der eine Institution auf uns aufmerksam gemacht hat - aber rechtfertigt es das, einen Lebenslauf völlig umzuschreiben? Ich denke, dass hiermit eine Verpflichtung einhergeht, das humane Element nicht aus Psychologie, Psychiatrie und Rechtswesen auszuschließen - errare humanum est, irren ist menschlich; aber, um mit Seneca fortzufahren, auf einem Irrtum zu bestehen ist teuflisch!

Schwieriger Blick in die Vergangenheit

Ein zusätzliches Problem im Fall Mollaths ist natürlich, ein Urteil ex tunc, das heißt aus Sicht des Jahres 2006 zu fällen, als Mollath in die Zwangspsychiatrie eingewiesen wurde. Alles, was wir heute, ex nunc, an ihm beobachten, ist auch eine Funktion dessen, wie Rechtswesen und Psychiatrie mit ihm verfahren sind - und das war, wie wir heute nach dem Regensburger Urteil wissen: falsch.

Meinen kritischen Hinweis in besagter Runde, selbst wenn Mollath heute verrückt wäre, ihn vielleicht erst die sieben zu Unrecht in der Psychiatrie verbrachten Jahre so gemacht hätten, quittierten meine Gesprächspartner nur mit einem Lachen. Dass jemand in einer Heilanstalt ihrer Zunft verrückt wird, hielten sie wohl für ausgeschlossen.

Der Rosenhan-Versuch

Dabei hat doch schon Rosenhan in seinem Selbstversuch gezeigt, dass man auch als Gesunder sehr schnell in die Psychiatrie, jedoch nur sehr schwierig wieder herauskommt. Vor allem war es dafür entscheidend, sich den Spiel- und Diskursregeln der Psychiater zu unterwerfen, um eine "Heilung" in ihrem Sinne zu simulieren, die dann mit der Entlassung belohnt wurde (On Being Sane in Insane Places, Science, 1973).

Diesen Ausweg hat sich Gustl Mollath mit seiner grundlegenden Weigerungshaltung allem Anschein nach verbaut; sich einem Unrecht zu unterwerfen und anzupassen oder zu einem hohen Preis auf seinem Standpunkt zu beharren, ist aber eine höchst persönliche und moralische Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen muss. Beharrlichkeit ist aber, auch wenn sie anderen irrational erscheint, kein Verbrechen und sie ist auch keine psychische Störung.

Mich wundert bei alledem nicht, wie verrückt Mollath vielleicht war oder ist, sondern wie gesund er geblieben ist. Immerhin hat er sieben Jahre seines Lebens in der Zwangspsychiatrie verbracht - und das nicht nur ungesetzlich, sondern, für seine eigene Wahrnehmung entscheidend, in subjektiv erlebter Unschuld.

Psychologie der Gefangenschaft

Ich lese gerade die Briefe Dietrich Bonhoeffers, der vom 5. April 1943 bis zu seiner Hinrichtung am 9. April 1945 in Gestapo-Untersuchungshaft verbrachte. Aus Sicht der damaligen NS-Gesetze saß er dort zu recht, subjektiv und aus heutiger Sicht natürlich zu unrecht. Bonhoeffer war gebildet, er war gläubig, ein disziplinierter Mann, vertraute lange auf einen guten Ausgang seiner Sache und hatte viel Rückhalt in der Familie und unter Freunden, worunter einflussreiche Persönichkeiten waren.

Als sich herumsprach, dass er Pfarrer war, wurde er von Wärtern und Mitgefangenen vergleichsweise gut behandelt. In seinem Brief vom 18.12.1943, also nach rund einem Dreivierteljahr in Gefangenschaft, schrieb er dennoch über die psychischen Auswirkungen der Haft:

Die erste Folge solcher Sehnsuchtszeiten ist immer, daß man den normalen Tagesablauf irgendwie vernachlässigen möchte, daß also eine gewisse Unordnung in unser Leben kommen will. Ich war manchmal in der Versuchung, morgens einfach nicht um 6 Uhr aufzustehen wie üblich, - was durchaus möglich gewesen wäre, - sondern länger zu schlafen. Ich habe mich bisher immer noch dazu zwingen können, das nicht zu tun; es war mir klar, daß das der Anfang der Kapitulation gewesen wäre, dem vermutlich Schlimmeres gefolgt wäre; und aus der äußeren und rein körperlichen Ordnung (morgendliches Turnen, Kaltabwaschen) geht schon etwas Halt für die innere Ordnung aus. Weiter: es ist nichts verkehrter, als den Versuch zu machen, in solchen Zeiten sich irgendeinen Ersatz für das Unerreichbare zu schaffen. Es gelingt doch nicht und eine nur noch größere innere Unordnung tritt ein; die Kraft aber, die Spannung zu überwinden, die doch nur aus der vollen Konzentration auf den Gegenstand der Sehnsucht entspringen kann, wird angefressen und das Durchhalten noch unerträglicher. […] Weiter: ich glaube, es ist gut, nicht mit Fremderen von seinem Zustand zu reden, - das wühlt nur noch mehr auf, - sondern nach Möglichkeit sich für die Nöte anderer Menschen offenzuhalten. Vor allem darf man nie dem self-pity, dem Sichselbstmitleiden, verfallen.

Bonhoeffer wird wenige Tage später, kurz vor Weihnachten 1943, das er entgegen seinen Erwartungen doch nicht in Freiheit und mit seiner Familie verbringen konnte, von einer zermürbenden, ängstlichen Vorsicht schreiben; und es wird Tage geben, an denen er vor allem nur lesen, nicht jedoch so schreiben kann, wie er sich das wünscht. Die Schwermut drückte auch ihn manchmal danieder, den gebildeten Pfarrer, der in Gefangenschaft seine theologische Ethik des Widerstands ausarbeitete.

Entscheidungen schwer revidierbar

Was lernen wir daraus? Wenn eine Entscheidung erst einmal offiziell geworden ist, wenn die Stempeltinte erst einmal tief ins Papier eingesickert und getrocknet ist, dann sind die institutionellen Widerstände groß. Schließlich geht damit, einen offiziellen Fehler einzuräumen, einen Fehler selbst erfahrener Experten, ein Gesichtsverlust einher. Die damit verbundenen, mitunter psychisch vernichtenden Folgen werden dem Einzelnen aufgebürdet.

Ein erfahrener Psychiatrie-Professor am Ende seiner Karriere, mit dem ich einmal zusammen einen öffentlichen Vortrag gehalten habe, sagte in der Anschlussdiskussion mit dem Verweis auf jugendliche Delinquenz, es sei manchmal vielleicht besser, erst gar nicht in die Mühlen der Institution (hier: der forensischen Psychiatrie) zu geraten.

Wenn man sich vor Augen führt, wie schnell ein Lebenslauf umgeschrieben, wie schnell ein Mensch abgestempelt werden kann, dann wird das verständlich. Freilich gibt es auch Gutes über diese Institutionen zu sagen, was ihre Vertreter zu recht immer wieder betonen. Von Staatsanwaltschaft, Richtern und psychiatrischen Gutachtern müssen wir aber erwarten, dass sie nicht nur das Negative sehen, das zu einem Stempel passt, sondern auch das Positiv-Widersprüchliche.

Experten sind zur Neutralität verpflichtet

Schließlich ist auch der Ankläger, die Staatsanwaltschaft, kein advocatus diaboli nach kirchlichem Recht, dem es zum Beispiel im Zusammenhang mit einer Selig- oder Heiligsprechung obliegt, alles und nur das Negative, das sich über einen Menschen sagen lässt, zusammenzutragen. Nein, Staatsanwaltschaft und Gericht sind der Wahrheitsfindung verpflichtet (siehe z.B. § 160 Strafprozessordnung, Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung).

In einem Interview auf Telepolis erklärte gerade der Justizaussteiger David Jungbluth, ehemaliger Staatsanwalt und Richter im Saarland, dass die Justiz ihren Aufgaben aufgrund realitätsferner Berechnungsmaßnahmen und Mittelkürzungen immer schlechter Nachkommen kann (Teil 1: "Es geht letztlich nur darum, die Akte so schnell wie möglich vom Tisch zu haben", Teil 2). Von Gutachten ließen sich deshalb manchmal nur noch die Zusammenfassungen lesen.

Zunehmende Probleme durch Rationalisierung

Wir kennen ähnliche Beispiele zuhauf aus dem Gesundheitswesen (z.B. Fallpauschalen), dem Journalismus (z.B. Einschaltquoten, Klickzahlen) oder aus Lehre und Forschung (z.B. Creditpoints, Impactpunkte). Diese Abrechnungsweisen beeinflussen uns alle - siehe auch die Serie zum Lifelogging von Stefan Selke (Teil 1: Was würde Bourdieu dazu sagen?).

Diese Maßnahmen entsprechen nicht der Idee eines freien Markts, in dem immerhin die Nachfrage mitentscheidend ist. Nein, sie entsprechen eher einer Planwirtschaft von oben. Was nicht in den Plan passen kann oder will, das wird eben richtiggestempelt - oder zur Not abgestempelt und abtransportiert.

Stephan Schleim ist Assistenzprofessor für Theoretische Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande).

Quellen

Mehr zum Thema:

Im Telepolis-Dossier zur Affäre Mollath

Justizversagen oder Verschwörung?




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