«Wenn ein Eisbär leidet, interessiert es mehr»

Die Welt scheint in Ordnung in der kleinen Gemeinde im Zürcher Oberland, fernab vom Trubel der Stadt. Silvia Tanner* sitzt zu Hause in einem umgebauten Bauernhaus am grossen Esstisch. Es ist ein milder Wintervormittag, der Himmel stahlblau, die tief stehende Sonne scheint durch die Fenster. Nebenan spielt ihr 6-jähriger Sohn.

Doch die Idylle ist schnell verflogen, als die 39-jährige zweifache Mutter zu erzählen beginnt. «Ich muss jederzeit mit einem epileptischen Anfall rechnen», sagt sie. Dieser kündigt sich jeweils kurz vorher an, gerade noch früh genug, um anwesende Personen vorzuwarnen. Die Epilepsie ist eine Spätfolge der schweren Hirnentzündung, welche bei Silvia Tanner vor vier Jahren auftrat – gleich nach der Geburt ihrer heute 4-jährigen Tochter. Das Leiden trägt den umständlichen Namen Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis und ist die gleiche Krankheit, an welcher der Eisbär Knut litt.

Der Publikumsliebling im Berlin Zoo ertrank 2011 im Wassergraben seines Geheges. Es sollte dreieinhalb Jahre dauern, bis Spezialisten im vergangenen Sommer die korrekte Diagnose stellten. «Wenn ein Eisbär darunter leidet, interessiert es die Menschen offenbar mehr», sei ihr erster Gedanke gewesen, als sie von Knuts Diagnose erfuhr. ­Silvia Tanner lacht. Sie hofft, dass nicht zuletzt dank Knut ihre Erkrankung bekannter wird, damit mehr Betroffene die korrekte Diagnose erhalten.

Die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis wurde erst 2007 entdeckt und ist selbst Ärzten häufig nicht bekannt. Betroffene entwickeln meist psychiatrische Symp­tome wie Halluzinationen, Gedächtnis­störungen, Ängste, Persönlichkeitsveränderungen. «Wegen dieser Auffälligkeiten enden die meisten Patienten in psychiatrischer Behandlung», weiss Christina Caporale, Neurologin am Kantonsspital Aarau. In einem Fachbeitrag für Psychiater und Psychotherapeuten schildert sie 2013 ausführlich die Besonderheiten der Erkrankung. Bei vielen Betroffenen werde fälschlicherweise eine durch Medikamente ausgelöste Psychose diagnostiziert.

Weltweit sind erst einige Hundert Fälle beschrieben worden. Häufig handelt es sich dabei um Frauen im gebärfähigen Alter. «Die rasch zunehmende Anzahl an Fallbeschreibungen lässt vermuten, dass es sich um eine noch unterdiagnostizierte Erkrankung handelt», stellt Caporale fest.

Trauma von der Psychiatrie

Auch bei Silvia Tanner tappen die Ärzte lange im Dunkeln, als sie sich im März 2012 nicht mehr von der Geburt ihrer Tochter erholt. Anfangs ist sie müde und niedergeschlagen. Dann, eines Abends beim Fernsehen, sieht sie, wie sich die Vorhänge bewegen. Sie glaubt an Geister, bekommt Panik, schreit. Ihr Mann bringt sie zum Hausarzt, der einen Eisenmangel diagnostiziert und ihr eine Infusion verordnet.

Beim zweiten Anfall, diesmal nachts, geht es direkt zum Notfall des Kantons­spitals Winterthur. Der diensthabende Arzt vermutet eine akute psychotische Störung und überweist Silvia Tanner in die Psychiatrie. Als ihre Familie anfänglich dagegen ist, verfügt der Arzt eine fürsorgerische Unterbringung. Die Angehörigen sehen sich gezwungen einzulenken, um eine Zwangsüberführung durch die Polizei zu verhindern.

In der Psychiatrie leidet Silvia Tanner zunehmend unter Wortfindungsstörungen, ist immer verwirrter, erkennt langjährige Freundinnen nicht mehr. Sie ist Veterinärmedizinerin, doch ihr Fachwissen kann sie nicht mehr abrufen. Genauso wenig wie ihre Fremdsprachenkenntnisse.

«Es war ein traumatisches Erlebnis, das ich bis heute nicht verarbeitet habe.»

Während Silvia Tanner zu Hause am grossen Esstisch ihre Leidensgeschichte erzählt, erinnert sie sich an vieles nicht mehr. Immer wieder blättert sie in einem dicken Ordner mit langen Arztberichten und Laborwerten. Auf diese Weise kann sie vieles rekonstruieren. An etwas erinnert sie sich jedoch ganz bestimmt: Die Atmosphäre in der psychiatrischen Klinik setzte ihr zu. Ihr sei kaum Beachtung geschenkt worden und sie habe sich «versorgt» gefühlt, sagt sie. «Es war ein traumatisches Erlebnis, das ich bis heute nicht verarbeitet habe.» Auf Drängen der Familie wird Silvia Tanner nach fünf Tagen erneut ins Kantonsspital gebracht, wo die Ärzte nun dank bildgebender Verfahren und einer Lumbalpunktion eine Hirnentzündung feststellen. «Nach diesem Befund war mein Fall für alle plötzlich interessant», sagt sie.

Die Krankheitsursache bleibt allerdings weiterhin unklar. Zuerst glaubt man an eine Herpesinfektion und behandelt sie mit antiviralen Medikamenten. Ohne Erfolg. Die Wende kommt, als ein emeritierter Medizinprofessor aus dem Bekanntenkreis die Krankheit Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis ins Spiel bringt und die krankmachenden Antikörper in der Rückenmarkflüssigkeit nachgewiesen werden können. «Ohne diesen Hinweis hätte man die Krankheitsursache vielleicht noch lange nicht gefunden», glaubt Tanner.

Botenstoff im Hirn blockiert

Bei dieser neurologischen Erkrankung greift das Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Strukturen im Gehirn an. Antikörper blockieren den Rezeptor, der den Hirnbotenstoff namens N-Methyl-D-Aspartat (NMDA) bindet. Durch die Blockade dieser Andock­stellen werden im Gehirn wichtige Informationen nicht mehr weitergeleitet, was zu den beschriebenen psychiatrischen und neurologischen Symptomen führt. Inzwischen sind mehrere weitere Auto­immunerkrankungen im Gehirn bekannt geworden, die über solche Mechanismen funktionieren.

Zu den Ursachen gibt es erst Hinweise. So findet sich bei Patientinnen oft ein sogenanntes Eierstock-Teratom. Bei dieser Tumorart entwickeln sich aus Stammzellen verschiedene Gewebe­typen, darunter oft auch Nervenzellen. Antikörper richten sich gegen diese Tumorzellen und können dann auch gesunde Strukturen im Hirn angreifen. Werde dieser Tumor entfernt, bestehe die Möglichkeit einer Besserung der Symptome, so die Neurologin Caporale.

Bei Silvia Tanner finden die Ärzte jedoch nichts dergleichen. Dennoch geht es bei ihr dank der Behandlung mit Kortikosteroiden aufwärts. Nach einem Monat Spitalaufenthalt wechselt sie in eine Rehaklinik, wo sie einfachste Dinge wie Einkaufen oder Kochen neu lernen muss. Langsam kehren verlorene Fähigkeiten und Erinnerungen zurück. Mitte August – fünf Monate nach der Geburt ihrer Tochter – kann Silvia Tanner nach Hause. «Anfangs kannte ich meine Tochter noch gar nicht», erzählt sie. Doch der schwierige Einstieg ist schnell überwunden, auch dank der Unterstützung von Ehemann, Eltern und Schwiegermutter. «Heute sind mir die Kinder sehr nahe», sagt sie.

Arbeitgeber entlässt sie

Schrittweise erkämpft sich Silvia Tanner den Weg zurück in die Alltagswelt. Vor allem die Rückkehr in die Arbeitswelt erweist sich anfangs schwierig, erst recht nachdem der frühere Arbeitgeber ihr kündigt. Heute arbeitet sie zu 30 Prozent in einer Tierarztpraxis in der Nähe ihres Wohnorts. «In Beruf und Alltag merkt man nichts mehr», sagt die Veterinärmedizinerin. Zu schaffen machen allerdings noch die epileptischen Anfälle, die seit gut anderthalb Jahren hinzugekommen sind. Und die plötzlichen Panikattacken aus Angst vor dem nächsten Krampf. «Es ist noch nicht vorbei», sagt Silvia Tanner beim Abschied.

*Name geändert (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 27.01.2016, 21:00 Uhr)

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