Warum wir fremde Handy-Gespräche belauschen

Ein Klingeln unterbricht jäh die Ruhe vor dem Sturm. Nun wird er einsetzen, der Schwall des Belanglosen. Mitten im Bus, in der U-Bahn oder in der Warteschlange an der Supermarktkasse. Psychologen der Universität von Kalifornien in San Diego haben in einem Experiment herauszufinden versucht, warum wir uns Mobiltelefonaten anderer nicht entziehen können. Dazu wurden 150 Probanden in einen Raum geführt und gebeten, Anagramme zu lösen, Buchstaben von Wörtern also in eine andere Reihenfolge zu bringen, sodass neue Wörter entstehen.

Diese kleine Logikaufgabe war aber nur ein Vorwand. Sobald die Versuchspersonen sich nämlich an die Aufgabe machten, begannen zwei andere Personen im selben Raum einen Dialog. Die Probanden wussten nicht, dass die anderen beiden Personen ebenfalls Teil des Versuchs waren. Und sie hörten den Dialog auch nur ein einziges Mal.

In einem Nachbarraum fand zur selben Zeit das Gegenexperiment statt: Eine einzelne Person führte dort einen Dialog mit einem imaginären Gesprächspartner am Mobiltelefon, während die Probanden ebenfalls Aufgaben lösen sollten.

Unzufrieden über fehlenden Dialog

Nach Ablauf des Versuchs wurden die Teilnehmer beider Gruppen gebeten, aus 70 Wörtern diejenigen auszuwählen, die im Dialog oder im Telefongespräch vorgekommen waren. Das Ergebnis: Die Versuchspersonen, die dem Handytelefonat gelauscht hatten, konnten sich wesentlich besser an Wörter aus dem Gespräch erinnern als diejenigen, die den persönlichen Dialog verfolgten.

"Es ist offenbar so, dass unser Gehirn beim unbewussten Verfolgen eines realen Dialogs zufrieden ist", erläutert Veronica Galván von der Abteilung für Psychologische Wissenschaften der University of California in San Diego. Es seien alle Informationen vorhanden, die unser Gehirn brauche. Bei einem Telefonat jedoch fehlt ungefähr die Hälfte an Informationen. "Dies erhöht unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit, ohne dass wir uns dessen bewusst sind", ergänzt die US-Psychologin, "deswegen können wir uns an solch einseitig geführten Gespräche unbewusst besser erinnern."

Die Probanden gaben außerdem an, ihre Konzentration jedes Mal aufs Neue verloren zu haben, wenn nach einer Pause der Telefonmonolog erneut einsetzte. Außerdem sei er ihnen lauter vorgekommen als das Gespräch zweier real anwesender Personen.

"Lücken rufen Irritationen hervor"

"Handytelefonate haben etwas sehr Aufdringliches an sich", sagt Galván. "Unser Gehirn möchte gern Informationen verarbeiten, Muster erkennen und Zusammenhänge verstehen. Lücken rufen Irritationen hervor." Und solche Lücken entstehen während eines Telefongesprächs, wenn eine Person redet, verstummt und dann weiterredet. Unser Gehirn bemüht sich dann, die Lücken mit sinnvollen Informationen zu füllen. "Es will unbedingt verstehen, in welche Richtung die Konversation geht."

Ein Gespräch zweier anwesender Personen plätschert ohne große Höhepunkte und Störungen vor sich hin. Es wird von uns wie ein Hintergrundrauschen hingenommen. Plötzlich einsetzende Stille und das ebenso plötzliche, scheinbar grundlose Weiterreden einer einzelnen Stimme jedoch erregen die Aufmerksamkeit unseres Gehirns – ob wir es wollen oder nicht. Und das gilt für alle Altersgruppen gleichermaßen.

Die Teilnehmer dieser Studie waren Studenten. Selbst bei jungen Menschen stellt sich dieser Effekt ein, obwohl diese Generation schon mit Mobiltelefonen groß geworden ist und daran gewöhnt sein sollte, einseitige Gespräche zu hören. "Wir vermuten daher, dass dieser Effekt bei der älteren Generation noch ausgeprägter ist", sagt Galván. Sie seien schließlich nicht mit Handys aufgewachsen und mit der Art und Weise, wie Mobiltelefonate geführt werden.

Privateste Dinge, die man einfach nicht hören möchte

Die Neuropsychologin Sarah Jensen, ebenfalls von der University of California in San Diego, war auch an der Auswertung dieses Experiments beteiligt. Sie betont die Unentrinnbarkeit der Situation von Zeugen mobiler Telefonate. "Ein Grund dafür, dass wir uns von Handytelefonaten anderer gestresst fühlen, ist die Tatsache, dass wir ihnen einfach nicht entkommen können." Wer im Auto oder im Zug sitze, müsse einfach zuhören. "Denn Sie können ja nicht raus!" Menschen würden oft über privateste Dinge reden, die man manchmal wirklich nicht hören möchte, "und das ist einfach störend", sagt sie.

Und es ist mehr als das. Das Sinnesorgan Ohr lässt sich nicht abschalten oder schließen, so wie die Augen oder die Nase. Wer einem Telefonat "ausgeliefert" ist, bei dem stauen sich Aggressionen auf. Unfreiwillige Zuhörer haben oftmals keine Kontrolle über die Situation. Sie stehen vielleicht irgendwo in der Schlange oder warten auf den Bus.

"Wir wissen, dass Menschen ohne Auswegmöglichkeit einen höheren Stresslevel empfinden", ergänzt Galván. Ihr Herzschlag sei beschleunigt; es würden mehr Stresshormone ausgeschüttet. Diese körperliche Reaktion dürfte das Aggressionsempfinden von Menschen erklären, die sich Handytelefonaten ausgeliefert sehen.

Ohrstöpsel und eigene Musik

Selbst die Wohlmeinenden unter den Handytelefonierern tun uns und unserem Gehirn keinen Gefallen, wenn sie ihre Stimme vom normalen Lautstärkelevel absenken auf Flüsterton. Denn dann fühle sich unser Gehirn erst recht herausgefordert, sagt Jensen. "Manche Menschen hören unbewusst noch genauer hin, wenn geflüstert wird. Jemand, der selbst flüstert, weiß, dass ihm andere zuhören. Er versucht sich anzupassen. Im Prinzip ist das natürlich freundlicher." Nur leider weiß unser Gehirn das nicht.

Was also lernen wir daraus? Es gibt zwei denkbare Auswege aus diesem Dilemma – eines für denjenigen, der sich in der Versuchung sieht, in der Öffentlichkeit ein Mobiltelefonat zu führen. Denn manchmal handelt es sich schließlich um wirklich wichtige Gespräche. "Aber wenn es warten kann, sollte man ruhig sagen, dass man sich gerade in der Öffentlichkeit befindet und später zurückruft", empfiehlt Jensen.

Und auch für unfreiwillige Ohrenzeugen von Handygesprächen hält die Psychologin Galván einen Rat bereit: "Es gibt eine Möglichkeit, uns aus der Situation zu befreien: einfach die Ohrstöpsel rein und der eigenen Musik lauschen! Damit bleiben wir Herr der Lage und fühlen uns nicht von Telefonaten anderer gestört!"

Nur hier draufdrücken, und schon beginnt der Download - je nach Tarif ganz zügig oder nur schleppend

Jugendliche und die Welt der Smartphones

Südkoreanische Jugendliche können sich ein Leben ohne Handys kaum vorstellen

Immer mehr Menschen macht der Handy-Entzug nervös

Leave a Reply