Für mich ist die Frage alles anderes als neu. Ich stelle sie mir regelmäßig beim Zocken. Zuletzt wurde sie mir von Ornstein and Smough aufgedrängt, dem frustrierend schweren Boss-Duo aus „Dark Souls“. Jedes Mal wenn Ornstein and Smough gewannen, verlor ich eine menschliche Entwicklungsstufe. Irgendwann war ich der Wiege der Hominoidea angekommen und schrie wie ein Primatenbaby. Warum tut man sich das an? Warum spielen wir überhaupt?
Die Psychologie hat im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage gefunden. Geeint werden sie durch die Erkenntnis, dass das Spiel bei uns Menschen sowohl evolutionär als auch kulturell tief verankert ist.
Wir Menschen haben schon immer gespielt. Vor tausenden von Jahren haben wir den Umgang mit Pfeil und Bogen spielerisch erlernt. Heute spielen wir halt „Dark Souls“. Das Prinzip ist das Gleiche. Besonders macht uns das allerdings noch nicht, denn auch junge Tiere spielen und studieren damit ein Verhalten ein, dass sie später zum Überleben brauchen. Gemeint sind damit jedoch nur die konkreten Funktionen des Spielens. Dass wir als Kinder spielen, um etwas zu lernen oder zu üben, was wir später einmal in unserer Kultur brauchen werden, sagt noch nichts über den eigentlichen Sinn oder – wie man in der Psychologie sagt – die Basismotivation des Spielens aus.
Go with the flow
Um den Sinn des Spielens zu verstehen, haben die Herren und Damen Psychologen erst einmal definiert, was das überhaupt ist, ein Spiel. Herausgekommen ist dabei eine Reihe von hochtrabend klingenden Merkmalen (hier nach R. Oerter). Im Grunde ist es aber ganz einfach.
Spiele haben einen Selbstzweck. Man spielt um des Spielens willen. Genauer gesagt spielen wir, um einen gewissen „flow“ zu erleben, bzw. eine optimale Beanspruchung von Körper und Geist zu erfahren, ohne dass wir uns dafür – und das ist der Knackpunkt – konzentrieren müssen. Wir gehen quasi im Spiel auf, nehmen es nicht mehr als eine bestimmte Tätigkeit wahr, sondern vergessen uns und die Zeit im Spiel.
Die Sache mit dem „flow“ geht auf Mihály Csíkszentmihályi zurück, der in den 80er Jahren kluge Bücher über das Spielen geschrieben hat. Da der „flow“ auch bei der Entwicklung von Computer- und Videospielen eine ganz zentrale Rolle spielt und für Game-Designer so etwas wie der heilige Gral ist, glauben wir ihm einfach mal. Außerdem hat jemand mit einem unaussprechbaren Namen in der Regel sowieso Recht.
Doch zurück zu den Merkmalen des Spiels. Ein weiteres Kennzeichen sind eingebildete Situationen. So tun, als ob – auch das zeichnet viele Spiele aus. Die Wissenschaft spricht vom Wechsel des Realitätsbezuges. Man kann es aber auch „World of Warcraft“ nennen. Einfach gesagt: Spiele ermöglichen uns das Erzeugen einer anderen Realität. Wir bilden uns dann eine Spiel-Wirklichkeit ein und statten sie mit eigenen Gesetzmäßigkeiten aus. Wenn wir mit mehreren Menschen gemeinsam spielen, müssen wir uns dabei auf einen bestimmten Rahmen dieser Realität einigen. Wer beim „Vater, Mutter, Kind spielen“ einen Wookie mimt, der hat die Regeln verrafft und ist somit raus aus dem Spiel. Schließlich lassen sich Spiele noch über Wiederholungen und den Bezug auf Gegenstände definieren. Mit anderen Worten: In jedem Spiel machen wir etwas wieder und wieder, und in jedem Spiel steht irgendein Ding im Mittelpunkt.
So weit – so what. Bis zu diesem Punkt braucht es noch kein Psychologie-Studium, um das Spielen als solches zu verstehen. In Spielen können wir uns vergessen, in Spielen erschaffen wir uns eine andere Welt, wir spielen immer mit Dingen und wir tun das mehr als einmal. Das hätte ich auch noch selbst gekonnt. Die Antworten der Psychologie können unmöglich so dünn sein.
Spielen als Lustbefriedigung
Sind sie natürlich nicht. Wer ein bisschen tiefer gräbt, wird schnell fündig. Bisher haben wir ja nur unseren Gegenstand definiert. Die Frage nach dem warum ist hingegen eine theoretische und jetzt wird´s wirklich interessant.
Unter den Theoretikern des Spiels dürfte Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der wohl Bekannteste sein. Freud hat einige sehr interessante Dinge über das menschliche Poloch gesagt und zudem unser Unterbewusstsein erfunden. Spielen war für ihn das Fliehen aus der harten Wirklichkeit, das Reich der reinen Lust. Sein gesamtes Werk fußt auf dem großen Widerspruch zwischen den Zwängen der gesellschaftlichen Realität und unseren triebhaften Bedürfnissen. Wir müssen immer viel und dürfen doch so wenig – daraus hat Freud sich seine komplette Theorie gebaut.
Für das Spielen bedeutet das: Hier dürfen wir Tabus brechen, Aggressionen ausleben und uns geheime, unterdrückte Wünsche erfüllen. Freud sah das Spiel als ein Fantasieprodukt, welches lustvolle Erfahrungen ermöglicht, aber auch als Möglichkeit zur Verarbeitung von Konflikten.
Wer sich also in Spielen auf schändliche Weise an der Ragdoll-Engine vergeht oder in GTA besonders gern mit Baseball-Schlägern Unsinn macht, der tut dies nach Freud, weil er so etwas in der Realität eben nicht darf. Es kann aber auch sein, dass die besagte Person sich damit von einer nicht verarbeiteten Kindheitserfahrung befreien und ein verlorenes Machtgefühl zurückgewinnen möchte. Dummerweise gilt Freuds Theorie heute in vielen Teilen als widerlegt und ein höchst problematisches Verhältnis zu Frauen hatte der Typ auch.
Spielen als Verteidigung gegen die Wirklichkeit
Sehr viel komplizierter als Sigmund Freud hat es sich der Franzose Jean Piaget gemacht. Der gilt unter modernen Spieltheoretikern als besonders einflussreich. Auch er sieht die Bedeutung des Spielens zwischen zwei großen Kräften: Akkomodation und Assimilation.
Klingt mal wieder komplizierter, als es tatsächlich ist. Zum einen passen wir Menschen unser Verhalten an die Außenwelt an, also etwa wenn wir als Kinder unsere Eltern nachahmen. Zum anderen sind wir aber auch dazu in der Lage, die Welt an unser eigenes Verhalten anzupassen, zum Beispiel wenn wir als Kleinkind zur Abwechslung mal in die Rolle der Mutter schlüpfen. Und darum geht es beim Spielen. Mit dem Spiel erobern wir unsere Umwelt, machen sie uns zu Eigen.
Der Franzose legt sogar noch eine Schippe drauf, denn er war felsenfest davon überzeugt, dass wir uns mit dem Spielen gegen die blöde Wirklichkeit wehren. Wenn wir also irgendwas spielen, dann tun wir das, um uns dem Sozialisationsdruck von außen zu entziehen. Mit dem Spiel behaupten wir unsere eigene, schöne Welt gegen die Umwelt. Leuchtet irgendwie ein.
Spiele als Wunschmachine
Die letzte große Theorie des Spiels stammt von Lew Semjonowitsch Wygotski. Mit ihm stellt sich zunächst die Frage, warum alle wichtigen Spiel-Psychologen so seltsame Namen haben. Darüber hinaus hat der Mann auch nur das konkretisiert, was wir bereits wussten: Mit Spiele erfüllen wir uns Träume.
Wenn wir in „inFamous“ gewaltige Sprünge machen, in „Journey“ schwerelos durch den Sand gleiten oder als Starkiller in „Force Unleashed“ einen Sternzerstörer mit unserem bloßen Willen vom Himmel kratzen, dann erfüllen wir uns damit unrealistische Wünsche. Laut Wygotski wollen Kinder früh das tun, was Erwachsene tun. Das bleibt ihnen aber natürlich verwehrt. Also beginnen sie sich eine Realität zu erschaffen, die es ihnen dennoch ermöglicht.
Im Gegensatz zu Erwachsenen wollen Kinder nämlich immer alles jetzt und sofort. Sie sind einfach noch nicht im Stande, etwas, dass sie wollen, auf unbestimmte Zeit aufzuschieben. Spiele bieten da den perfekten Ausweg. Mit ihnen können wir in jede Rolle schlüpfen, jeden Ort erreichen, alles wahr werden lassen.
Wygotskis Ideen wurden später von anderen Entwicklungspsychologen weiter ausgearbeitet. Es kamen neue Elemente wie das Ausdrücken von Allmachtsfantasien, die spielerische Kontrolle über Leben und Tod sowie die Bedeutung des Spiels für die Herausbildung einer eigenen Identität hinzu.
Warum spielen wir also?
Die psychologische Antwort auf diese Frage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir spielen seit jeher. Das Spiel ist in allen Kulturen zu finden. Es ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Handelns und ganz tief in uns verwurzelt – wir müssen einfach spielen. Spiele sind für unsere gedeihliche Entwicklung unabdingbar. Im Spiel lernen wir, wie die Welt funktioniert. Wir vergessen uns im Spiel, wir erfüllen uns unrealistische und unterdrückte Wünsche, wir verarbeiten Probleme und Konflikte. Das Spiel ist ein lustvoller und freier Ort, eine Welt, die von uns selbst erschaffen wird und die wir mit aller Kraft gegen die Anforderungen der Realität verteidigen.
Klingt zu gut, um wahr zu sein? Ist es leider auch. Wie so oft gilt es auch beim Spiel, die goldene Mitte zu finden. Und das ist im Zeitalter medialer Dauerüberforderung alles andere als einfach. Viele Menschen spielen zu viel. Viele Menschen spielen sich krank. Doch dazu an anderer Stelle mehr. Heute merken wir uns: Spielen ist ein Teil von uns!