Fußball ist Kopfsache" - wer diesen Satz bei der sonntäglichen DSF-Fußball-Talkshow "Doppelpass" von sich gibt, muss drei Euro ins Phrasenschwein werfen. Zu oft haben Spieler, Trainer und Fans diese Aussage bemüht, wenn es darum ging, Siege oder Niederlagen, Meisterschaften oder Abstiege zu erklären. Und doch: Psychologie und Fußball haben mehr miteinander zu tun, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Der Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, immer für einen klugen Spruch gut, hat es einmal auf den Punkt gebracht: "Wenn man sich einredet, man ist müde, dann ist man müde."
Damit sich die deutschen Nationalspieler nicht einreden, müde zu sein, beschäftigt der Deutsche Fußball-Bund bereits seit acht Jahren den Sportpsychologen Hans-Dieter Hermann. Er soll dazu beitragen, dass die Spieler bei der in wenigen Tagen beginnenden Europameisterschaft in Polen und der Ukraine ihre volle Konzentration auf den Titelgewinn lenken. Denn über Sieg oder Niederlage entscheiden nicht nur Taktik und Technik, Kondition und Koordination - sondern eben auch Stimmung und Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft.
Stimmung - das ist während eines Spiels vor allem Sache der Zuschauer auf der Tribüne. Und die Stimmung, die die Fans während eines Spiels durch ihre Anfeuerungsrufe erzeugen, hat einen Einfluss auf die Mannschaft. Die Schlachtgesänge putschen die Kicker der Heimmannschaft regelrecht auf und können die gegnerischen Spieler einschüchtern. So kann ein lautstarkes Publikum bei der Heimmannschaft einen Testosteronschub auslösen, belegten die Forscher Nick Neave und Sandy Wolfson vor der englischen Universität Northumbria mit Speicheltests. Damit dürften die diesjährigen EM-Gastgeberländer Polen und Ukraine bei dem Turnier einen leichten Vorteil genießen.
Die Erklärung, die die britischen Wissenschaftler für den Testosteronschub der heimischen Kicker haben, ist eher evolutionsbiologischer Natur: Es sind die archaischen Urinstinkte, die den Heimvorteil auslösen. "Testosteron ist bei Tieren mit Dominanz und mit Aggression verbunden", so Neave in der Fachzeitschrift "New Scientist". Er glaubt an eine Art Revierverhalten. "Wer zu Hause spielt, verteidigt in gewissem Sinne sein Territorium." Ein Indiz dafür, dass die Forscher mit ihrer These richtigliegen: Bei Torwarten, die neben dem eigenen Stadion ja auch noch ihr Tor verteidigen müssen, war der gemessene Testosteronanstieg besonders hoch. Statistisch belegt ist der Heimvorteil jedenfalls: Laut Angaben des Fußball-Weltverbandes Fifa, der das Phänomen in einer Studie untersucht hat, gingen bei mehr als 6500 hochkarätigen internationalen Fußballspielen in der Hälfte der Fälle die Gastgeber als Sieger vom Platz. Auswärtssiege und Unentschieden machten dagegen jeweils nur rund ein Viertel aus. Ganz ähnlich sieht das Verhältnis auch in der Bundesliga aus.
Das kann neben dem archaischen Revierverhalten der heimischen Spieler auch daran liegen, dass sich die Schiedsrichter von den Rufen des Heimpublikums beeindrucken lassen. Alan Nevill, Sportpsychologe an der Universität Wolverhampton, zeigte das vor einigen Jahren in einer Studie: Er ließ eine Gruppe von Referees Videoaufzeichnungen von 47 Zweikämpfen anschauen. Anschließend sollten die Schiedsrichter urteilen, ob es sich um ein Foul handelte oder nicht. Ein Teil der Schiedsrichter hörte dabei den Originalton mit den Reaktionen des Publikums. Bei ihnen war die Wahrscheinlichkeit, ein Foul der Heimmannschaft nicht zu pfeifen, um 15 Prozent höher - was ziemlich exakt dem Wert entspricht, der sich unter realen Bedingungen beobachten lässt. Die psychologische Ursache dafür sieht Sportpsychologe Nevill in dem Druck, den die Zuschauermassen auf die Schiedsrichter ausüben. Daher würden die Unparteiischen bei strittigen Situationen eher weiterspielen lassen, als einen Freistoß gegen die Heimmannschaft zu pfeifen.
Manchmal kann der Heimvorteil allerdings auch ins Gegenteil umschlagen. Denn ein Testosteronschub kann auch bei Spielern der Gastmannschaft ausgelöst werden - wenn ihnen zu viel Hass des Publikums entgegenschlägt. Der einstige Nationalspieler Mario Basler hat es einmal auf den Punkt gebracht: "Kritik macht mich nur noch stärker", sagte er in einem TV-Interview. "Wenn mich in Dortmund von 55.000 Zuschauern 50.000 hassen, mir am liebsten ein Bein abhacken würden, mich mit 'Arschloch' begrüßen, dann fühle ich mich wie Arnold Schwarzenegger gegen den Rest der Welt." Auch Oliver Kahn, der zu seiner aktiven Zeit bei Spielen in der Fremde von den gegnerischen Fans gerne mit Affenrufen und einem Hagel von Bananen begrüßt wurde, war bekannt dafür, auswärts besonders gut zu halten.
Doch zu hohe Erwartungen des Heimpublikums können ebenfalls Fehler der Heimmannschaft auslösen. Wenn Rückschläge drohen, könne der durch die Anfeuerungen ausgelöste positive Stress schnell in negativen Stress umschlagen, was dann zum Leistungsabfall führen könne, meint der Sportpsychologe Henning Plessner. "Natürlich spielt dabei auch die mediale Berichterstattung eine Rolle." Das zeigte sich zuletzt auch im Champions-League-Finale in München: Erst wollte der Ball trotz vieler Chancen der im eigenen Stadion spielenden und in den Medien als Favoriten dargestellten Bayern nicht mehr als einmal ins Tor des FC Chelsea. Und dann versagten in der Verlängerung und im Elfmeterschießen den beiden Top-Stars Arjen Robben und Bastian Schweinsteiger die Nerven, als diese ihren Strafstoß vergaben.
Überhaupt spielt Psychologie beim Elfmeterschießen eine besonders große Rolle. Statistisch landen knapp drei Viertel aller Strafstöße im Tor. Doch Schütze wie Torwarte können diese Quote beeinflussen. Der norwegische Sportpsychologe Geir Jordet analysierte die Elfmeterduelle aus 30 Jahren Welt- und Europameisterschaften sowie Strafstöße aus der Champions League. Das Ergebnis: Je mehr Zeit sich die Schützen nehmen, um sich auf das Duell mit dem Torhüter zu konzentrieren, desto eher treffen sie auch. Wer nach dem Pfiff des Schiedsrichters weniger als 200 Millisekunden vor dem Schuss aufs Tor verstreichen ließ, traf in 57 Prozent der Fälle - wer jedoch mindestens eine Sekunde wartete, in immerhin 80 Prozent der Fälle.
Aber auch der Torwart kann seine Erfolgsquote steigern: Stellt er sich nicht exakt in die Mitte des Tores, sondern ganz leicht versetzt nach rechts oder links, verführt er den Schützen dazu, in die Ecke zu schießen, wo mehr Platz ist. Das zeigte Rich Master von der Universität Hongkong vor fünf Jahren in einer Studie, für die er 200 Videoaufzeichnungen von Strafstößen auswertete. Demnach zielt der Elfmeterschütze in 60 Prozent der Fälle in die sogenannte lange Ecke. Masters Tipp an die Torhüter: Sie sollten leicht seitlich von der Mitte stehen - und nach dem Schuss sofort in die andere Richtung springen.
Trotz aller Psychologie spielt beim Fußball aufgrund der wenigen Tore der Zufall eine besonders große Rolle, erklärt Metin Tolan, Professor an der TU Dortmund und Autor des Buches "So werden wir Weltmeister: Die Physik des Fußballspiels". Nur drei Tore fallen in einem durchschnittlichen Bundesligaspiel - jedes Team schießt aber zwischen 15 und 25 Mal aufs gegnerische Gehäuse. Deshalb hat die eigentlich bessere Mannschaft häufig trotzdem das Nachsehen: Sie geht nur in gut der Hälfte der Fälle als Sieger vom Platz.