"Scheiße sagt man nicht", bekommen Kinder meist von den Eltern zu hören - allein wenn ihnen das gewöhnlichste und inzwischen schwächste aller deutschen Schimpfwörter über die Lippen kommt. Doch das gelegentlich unter Strafe gestellte Verbot, so wissen Psychologen, speichert sich unbewusst tief im Hirn und kommt später, emotional konditioniert, wieder an die Oberfläche.
"Ein totales Schimpfwortverbot für Kinder", sagt der Hamburger Psychologe Michael Thiel, "ist deshalb auch nicht gut. Denn als Erwachsener reagiert man dann umso heftiger darauf und kann mit Schimpfwörtern umso schwerer umgehen."
Fluchen kann heißen: Bereit zum Kampf
Im Gegenteil: Fluchen, Schimpfen und Beschimpfen mit deftigen, ordinären, obszönen und in jedem Fall mächtigen Wörtern kann unter gewissen Umständen eine sehr heilsame Angelegenheit sein. Denn es trägt ganz offensichtlich zur Schmerzlinderung bei - wie ein Team von britischen Wissenschaftlern um Richard Stephens herausfand. Während ihrer Studie sollten Probanden ihre Hände in eiskaltes, auf die Dauer schmerzendes Wasser tauchen, dazu etwa "fuck" oder "shit" sagen oder eben gänzlich belanglose Worte gebrauchen. Klares Resultat: Die Hände der Fluchenden blieben im Schnitt 40 Sekunden länger in der nassen Kälte.
"Der Schmerz wird nicht so stark empfunden, denn durch das heftige Schimpfen wird das Stresssystem des Menschen aktiviert, er schüttet das stresslindernde Hormon Adrenalin aus, der Pulsschlag erhöht sich", erklärt Michael Thiel. "Er ist bereit zum Kampf und setzt dafür mehr Energie frei." Mit gröberen Schimpftiraden ("Mich kotzt das hier alles verdammt tierisch an)" oder auch nur banalen, kurzen Alltagsflüchen ("Mist!") lässt man also keinen Dampf ab, so die Forscher, sondern baut welchen auf.
Flüche können demnach, im rechten Moment angewandt, ganz gezielt die Leistung steigern. Um das zu belegen ließ Stephens die Testpersonen auf einem Fahrradergometer auf der Stelle gegen einen Widerstand strampeln. Erneut konnten die Schimpfenden länger in die Pedale treten und mehr Leistung aus sich herausholen.
Schimpfen kann Taktik sein, um sich zu schützen
Wer wüsste das nicht besser als Profisportler. Einen wie Boris Becker etwa hat der Selbstfluch auf dem heiligen Rasen häufiger zu erfolgreicheren Tennisschlägen motiviert. Das Gefluche und Geschimpfe kann aber auch ein deutliches, wirksames Signal an die Mitmenschen sein, nicht nur beim Autofahren. Ein Radfahrer namens Udo Bölts hatte 1997 mit den Worten "Quäl Dich, Du Sau!" seinen Teamkapitän Jan Ullrich derart angestachelt, dass der schwächelnde Ullrich fortan wie ein schier Wahnsinniger zum Sieg bei der Tour de France fuhr.
Und schließlich kann das Ziel des Fluchs ein taktisches Geplänkel sein. "Wenn ich fluche, weil mir etwas misslingt", sagt Thiel, "dann ziehe ich die Aufmerksamkeit anderer auf mich. So schütze ich mich vor Überforderung, lenke ab und gewinne auf diesem Weg Zeit für die Lösung des Problems." Fluchen quasi als Ausweg, als Schongebärde. Denn ein Schimpfwort könne man, so Thiel, eigentlich fast nie ignorieren.
Wenigflucher sind deutlich besser dran
Neben dem Adressaten sind, sagen die Wissenschaftler, offenbar auch bestimmte Eigenschaften des Schimpfens für seine Wirkung wichtig, etwa die Häufigkeit. Schimpfworte nutzen sich ab, resümiert Stephens nach den Untersuchungen. Logisch also, dass Viel- und Dauerflucher kaum noch ernst genommen werden, bei "Scheiße" zuckt ja ohnehin kaum noch jemand zusammen. "Es sei denn", sagt Michael Thiel, "ein Wenigflucher gebraucht es akzentuiert, und dann noch besonders laut". Bei besonders ordinärer Wortwahl könne aber auch ein leiser Tonfall die nötige Musik machen. "Wenigflucher sind jedenfalls deutlich besser dran", bilanziert Thiel.
Einen zusätzlichen Energie-Schub erhält der Flucher, wenn er außerdem vermeintlich oder tatsächlich recht hat ("Bullshit, hab ich doch gleich gewusst, dass der Motherfucker spinnt"). Doch kaum etwas ist emotional so mächtig und berührt so sehr wie ein herzhaftes Schimpfwort in der Sprache, die jeder Mensch am besten versteht - der Muttersprache.