Veränderung und Verrat – General

Die deutsche Schriftstellerin Judith Hermann, aufgenommen 2009 in Berlin.Foto: dpa

Seitdem stand Hermanns Schreiben unter Beobachtung, nicht immer ohne Häme. Sie ließ sich fünf Jahre Zeit für den Band "Nichts als Gespenster", weitere sechs für "Alice"; hinreißend schwerelose Erzählungen von hippen Großstadtbewohnern um die Dreißig.

Jetzt hat Judith Hermann, inzwischen 44, erstmals einen Roman geschrieben, und ihre Protagonistin Stella wohnt mit Mann und Kind in einer Siedlung am Stadtrand. Stella, 37, betreut als Krankenpflegerin ambulant alte Menschen, ihr Mann Jason ist Fliesenleger und meist auf Montage. Etwas hat sich gesetzt. Etwas bleibt aber vielleicht auch weiter ungelebt.

"Aller Liebe Anfang" heißt der Roman, der nach 220 hochkonzentrierten Seiten doch wieder eher wirkt wie eine ausgedehnte Erzählung. Stella ist allein zu Hause, als es an einem Mittag klingelt; vor der Haustür ein junger Mann, den sie nie zuvor gesehen hat. Seinen Wunsch, sich mit ihr zu unterhalten, weist sie zurück. Am nächsten Tag klingelt er wieder - der Beginn einer Belagerung, die nicht nur Stellas Alltag bedroht, sondern auch ihre Gefühle und Lebensentscheidungen.

Dass "Aller Liebe Anfang" nämlich ziemlich zufällig sein kann, zeigt Hermann schon in einer Art Prolog, in dem Jason der neben ihm sitzenden noch fremden Stella wegen ihrer Flugangst die Hand hält und einschläft. "Später wird das ein Vorzeichen sein. Stella hätte damals schon verstehen können - sie hat Angst, und Jason schläft."

Jason spricht auch nicht. Wenn er nach Hause kommt, freut sie sich; wenn er wieder fährt, aber auch. Zwischen den beiden herrscht eine Distanz, die dieser "Mr. Pfister" ausfüllt: "Ich wünsche mir, dass Du mich ansiehst. Dass Du mich ansiehst und mir zuhörst", schreibt er einmal, und Stella erschrickt darüber, dass sie genau das von Jason will. Lange nimmt sie die Nachstellungen hin; als sie versteht, dass es dabei nicht wirklich um sie geht, ist sie fast gekränkt.

Meisterhaft hält Judith Hermann die Verhältnisse in der Schwebe, lässt einen rätseln, ob "Mr. Pfister" gefährlich krank ist oder nur verliebt. Mit subtiler Psychologie aber zieht sie die Schlinge des Stalkers zu, der Stella mit Briefen und Zetteln traktiert, mal ein Foto, mal ein abgebranntes Streichholz in den Briefkasten steckt, auf den er schließlich sogar seinen Namen schreibt. Eine unfreiwillige, albtraumhafte Nähe, die in Gewalt eskaliert. Jason und Stella ziehen weg, zusammen. Doch sie weiß es jetzt: "Veränderung ist kein Verrat."

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang. S. Fischer Verlag, 224 S., 19,99 Euro. Die Autorin liest am 22. September in der Kulturkirche Köln.

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