„Die Hemmung, die das Denken, die Vitalität,
das Leben auf der Stufe der sinnlichen Gewissheit erfährt, äußert sich in
Krankheitssymptomen."
(Sozialistisches Patienten Kollektiv)[1]
„Denken heißt ins
Labyrinth eintreten, einen Irrgarten erstehen lassen. Denken heißt sich in den
Gängen verlieren, die es nur deshalb gibt, weil wir sie unablässig graben."
(C. Castoriadis)[2]
„Denken ist etwas, was
auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln voraus geht"
(B. Brecht)[3]
Notwehr
Ein tragisches
Ereignis brachte vergangenes Jahr exemplarisch das Verhältnis der deutschen
Gesellschaft gegenüber ihrer psychischen Verelendung erneut auf den Punkt:
Am 24. August 2011
wurde die 53 jährige, 1.60 m kleine und ca. 40 kg. leichte Andrea H. in ihrem Zimmer, im 8. Stock eines
Hochhauses im Berliner „Märkischen-Viertel", in einer von einem sozialen Dienst
betreuten Wohngemeinschaft, von einem Polizisten erschossen. Andrea wehrte sich
mit verzweifeltem Körpereinsatz gegen die Zwangseinweisung in eine
psychiatrische Einrichtung. Andrea war einer Aufforderung zu einer Amtsanhörung
bzgl. Ihrer behördlich angeordneten Einweisung nicht nachgekommen. Vermutlich ahnte
sie deshalb schon, was ihr eigentlich bevorstehen sollte, als der
Sozialpsychiatrische-Dienst (SpD), nebst Amtshilfe in Form einer
Streifenwagenbesatzung, vor ihrer Tür stand. Dass sie schließlich über den
Haufen geschossen werden würde, damit hat Andrea jedoch mit Sicherheit nicht
gerechnet. Dies ist indes kein Einzelfall!
Andrea schloss sich
zunächst in ihr Zimmer ein und redete mit den Polizisten durch die geschlossene
Tür. Plötzlich öffnete sie diese unvermittelt und fuchtelte in panischer Angst
mit einem Messer herum. Dabei wurde ein Beamter am Unterarm verletzt. Die
Polizisten versprühten eine Ladung Pfefferspray gegen Andrea, woraufhin sie
zurück in ihr Zimmer flüchtete und die Tür wieder verschloss.
Die Beamten
forderten derweil Verstärkung an und bekamen diese bald darauf von der 23.
Einsatzhundertschaft der Berliner Bereitschaftspolizei. Etwa 20 Beamte in
vollem Wichs standen schließlich in und vor Andreas Wohnung, um die Tür zu
ihrem Zimmer mit einer Ramme aufzubrechen. Die Agenten des SpD waren offenbar
bereits kaltgestellt worden. Jedenfalls dachte niemand zu diesem Zeitpunkt noch
an deeskalierende Maßnahmen. Stattdessen wurde das ganze Spektakel zu einem
Exempel des staatlichen Gewaltmonopols. Andrea wusste sich in dieser Situation
anscheinend nicht mehr anders zu helfen, als erneut mit dem Messer in der Hand
aus ihrem Zimmer auszubrechen. Der Einsatzleiter, der sich, wie seine Kollegen,
hinter einem mit Sicherheit stichfesten Schutzschild verborgen hielt, zog seine
Pistole und streckte Andrea mit einem Schuss in die Leber nieder. Sie verblutete,
noch bevor der Rettungsdienst zu ihr durchdringen konnte.
Fasst man div.
Zeitungsberichte dieser Tage zusammen, dann muss sich die Tragödie so oder sehr
ähnlich abgespielt haben.[4] Bodo Pfalzgraf, Berliner Landesvorsitzender der
Polizeigewerkschaft kommentiert: „Wer
mit einem Messer Polizisten angreift, muss damit rechnen, erschossen zu werden. Allein die Tatsache, dass es eine
geistig verwirrte Person war, rechtfertigt nicht, dass sich der Polizist hätte
erstechen lassen müssen." Ein
obligatorisches Ermittlungsverfahren gegen den Todesschützen wurde zwar
eingeleitet. Doch schon nach zwei Tagen, am 26. 8., stellte sich der Sprecher
der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner, den
Fragen der Presse mit folgenden Worten: „Nach
dem Stand der Ermittlungen kann man vorsichtig sagen, dass der Schuss aus einer
Nothilfesituation heraus abgegeben wurde." Der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland (Die Grünen) meldet daraufhin „Aufklärungsbedarf" an: „Die eingesetzten Beamten hätten gewusst,
dass die Frau ein Messer hatte. Somit seien sie nicht unvorbereitet gewesen.
Geklärt werde müsse auch, warum der Schütze nicht auf die Arme oder Beine
gezielt habe, um die Frau kampfunfähig zu machen." Aber Herr Wieland: Hinter
einem Schild verschanzt, sind derart gezielte Schüsse nun mal nicht möglich! Wieland
bilanziert schließlich lakonisch: „Man
muss sagen, der Einsatz ist gründlich danebengegangen" - wovon aus Sicht der Polizei allerdings kaum
die Rede sein kann. Weitere Reaktionen der politischen Kaste sind mir nicht
bekannt. Knapp zwei Wochen nach dem Todesschuss vermeldet der Berliner
„Tagesspiegel" dann auch erwartungsgemäß, dass die Ermittlungen gegen den
Todesschützen eingestellt wurden.
Die
naheliegende Auffassung, dass Andrea H. sich ihrerseits in einer Notwehrsituation
befunden haben könnte, wurde in keiner Zeitung zur Debatte gestellt. Die
eigentlich eher geringe empathische Anstrengung, die dafür hätte aufgebracht
werden müssen, ist von den Schreibern der bürgerlichen Presse offenbar genauso
wenig zu erwarten, wie von einem Abgeordneten der Grünen. Noch viel weniger zu
erwarten ist die rhetorische Frage: ob die Polizei sich z. B. im Falle einer
Vorführung zwecks Zwangseinweisung ebenso verhalten hätte, wenn es sich um eine
ähnlich von Panik erfasste Person in den eigenen vier Wänden einer Villa in
Frohnau gehandelt hätte? Wohl kaum. Und wenn doch, dann wäre das Echo der
Politik und der Justiz vermutlich anders ausgefallen und die Gewerkschaft der
Polizei hätte sich schweigepflichtbewusst zurückgehalten. Wahn kommt auch in
den besten Familien vor, aber Angehörige solcher Familien werden meistens auch bestens
versorgt. Von daher ist es eigentlich auszuschließen, dass ein unangemeldeter SpD
plus Polizei weiter als bis zur Gartenpforte kommen würde. Das sei den
Betroffenen aus solchen Gesellschaftsschichten von Herzen gegönnt! Leiden diese
doch wie alle anderen Betroffenen letztlich auch unter der gleichen Symptomatik
der Entfremdung, welche der Verwirrung und dem Wahn von jeher stets Vorschub
leistet.
Begreift
man Verwirrung und Wahn als etwas (auch im anthropologischen Sinne) durch und
durch Menschliches, und daran besteht für mich kein Zweifel, dann ist anzunehmen,
dass (auch) der Todesschütze sich in einer akuten emotionalen Notsituation empfunden
haben muss. In dem Moment nämlich, als er sich selbst - in Andrea spiegelnd -
gewahr wurde. In dem also die Macht ihrer Wut aus Angst sich unmittelbar und
unausweichlich mit seinen eigenen Ängsten kreuzte. Was in ihm scheinbar eine
heftige Phobie auslöste. Andrea hat ihn schlicht verwirrt und Angst eingejagt. Angst
vor dem Wahn. Wahnsinnige Angst. Dieser Angst begegnete er wehrhaft. Anders hat
er es nicht gelernt. Die Wendung seiner eigenen Not in Notwehr gegen
Andreas Angst musste, weil diese nicht begriffen werden konnte und nicht
begriffen werden soll, im Nachhinein als professionelles Handeln rationalisiert
und legitimiert werden. Wir sehen hier auf beiden Seiten das
Zusammenspiel aus real begründeter und irrationaler (phobischer) Angst, die in
der unmittelbaren Begegnung der beiden Protagonisten zwischen ihnen scheinbar
eine paranoide Situation erzeugte, welche schnell einer Eigendynamik folgte.
Die durch die abstrakten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse
hervorgebrachten destruktiven Elemente, die dieser Dynamik voraus- und mit ihr
einhergehen, trennen die gemeinsam produzierte Angst, die doch nur aus der konkreten
Begegnung zwischen Andrea und ihrem Todesschützen zu verstehen wäre, von deren konkreten
Verhältnis zueinander künstlich ab. Das Symptom - Paranoia - kann so dem
Kontext entrissen und Andrea einseitig zugeschrieben werden. Damit wird
zugleich dem Todesschützen zugestanden, sich dieses Symptoms einseitig entledigen
zu dürfen. Das wird jedoch nicht restlos funktionieren. Es wird hier etwas zur
Vordertür hinaus befördert, was mit Sicherheit durch die Hintertür zurück
kommen wird. Der Todesschütze bleibt (nachhaltig) traumatisiert. Es ist davon
auszugehen, dass seine Phobie gegen Verwirrung und Wahn sich vorerst weiter
manifestieren wird. Die Legitimation seiner Handlung von Staatswegen kann seine
Verwirrung evtl. aufheben. Nicht aber seine Phobie!
Um das
Herrschaftsverhältnis, welches sich in dieser Tragödie mit aller Macht gezeigt
hat, auf den Begriff bringen zu können, ist ein gewisses Maß an Empathie
gegenüber dem Todesschützen unabdingbar - Sympathie jedoch nicht. Das
meint: Empörung gegen die Schergen des Staates ist nachvollziehbar und berechtigt.
Es wird jedoch Andrea und allen anderen Opfern staatlicher Willkür kaum gerecht,
bei der Empörung stehen zu bleiben. Polizeischergen bei jedem solcher Anlässe
bloß als „Schweine" zu betiteln, sie derart zu entmenschlichen und ihnen damit
zugleich ihre Verantwortung als handelnde Subjekte zu nehmen, dabei letztlich unsere
eigene Verantwortung, nämlich den Dingen auf den Grund zu gehen, gleich mit zu
entsorgen, kann nicht unsere Sache sein.
Zuschreibungen
Dem
tödlichen Spektakel ging vermutlich eine psychiatrische Diagnose voraus. Folgt
man der Etymologie, dann leiten sich die Begriffe Diagnose / Diagnostik von griech.
dia-gnosis = unterscheidende Erkenntnis ab. Dem wiederum liegt dia-gi-gnoskein
= durch und durch erkennen (=durchschauen) zugrunde.[5] Mit peinlicher Unterscheidung hat eine
psychiatrische Diagnose oft tun, mit Erkenntnis seltener. Von einem „durch und
durch erkennen" der diagnostizierten Person kann schon gleich gar nicht die
Rede sein. Im Falle des SpD schon deshalb nicht, da bereits das Anbahnen einer
Beziehung zu der Person, die erkannt werden soll, was die Voraussetzung dafür
wäre, überhaupt erst mal einen Erkenntnisprozess auf den Weg zu bringen, im
Arbeitsauftrag solch einer Behörde nicht vorgesehen ist.[6] Deshalb bliebe der SpD in seiner Bürokratie
selbst dann noch befangen, wenn die gegenwärtig offiziellen Diagnosekriterien
der Psychiatrie (ICD-10, DSM)[7] tatsächlich zu mehr zu gebrauchen wären als
dafür, die bürokratischen Erfordernisse des „Gesundheitssystems" zu bedienen.
Eben deshalb, weil die dort beschäftigten Psychiater und Psychologen wie eine
Art „Taskforce" operieren und ihr Klientel nur selten, manchmal gar nicht zu
Gesicht bekommen, bevor sie solch einen vorgezogenen Vollzugsbefehl für einen
Polizeieinsatz unterschreiben. Das alles kann die Zunft jedoch kaum davon
abhalten, ihre Urteile über Menschen zu fällen, die sie kaum oder gar nicht kennt.
Und die, wie wir gesehen haben, im schlimmsten Fall, wenn auch ungewollt so
doch keinesfalls unvermeidlich, zu Todesurteilen werden können. Insofern
besteht die tatsächliche Bedeutung der Diagnose darin, „dass sie, sozial
gesehen, der Dolch ist, der ins Herz der Gnosis getrieben wird. Die Diagnose
ist der Mord an der Möglichkeit, den anderen Menschen kennenzulernen, ein Mord,
verwirklicht durch die Verdrängung der Realität dieses Menschen in die Vorhölle
einer sozialen Pseudo-Objektivität."[8]
Das Lieblingsblatt
der Deutschen mit humanistischer Bildung im gymnasialen Oberstufenbereich, „Die
Zeit", spricht von ca. 200.000 Zwangseinweisungen jährlich. „Eine mittlere Kleinstadt landet so
nahezu unbemerkt in den geschlossenen Abteilungen der Psychiatrien."[9] Etwa die Hälfte dieser
Zwangseinweisungen wird nach dem Betreuungsgesetz (PsychKG) durchgeführt.[10] Das heißt konkret, das Betreuer, meist
Sozialarbeiter oder Ehrenamtliche, die noch nicht einmal dazu befugt wären,
eine Diagnose zu stellen, nach eigenem Gutdünken eine Zwangseinweisung beim
örtlichen Amtsgericht bewirken können. Die Gerichte stimmen, laut einer
NRW-Statistik, in rund 99 Prozent der Fälle umstandslos zu.[11] Als Grundlage für die Entscheidungen der Richter dienen dann meist ältere,
teilweise Jahre zurückliegende Diagnosen. Diese Verfahrensweise ist folglich
pure Willkür. Ein paar Zeilen weiter offenbart uns die „Zeit" dann noch den
Klassencharakter dieser Gerichtsbarkeit. „Es gibt aufgrund der Zahlen aus dem
NRW-Gesundheitsministerium ein Ranking für betroffene Menschen: Männliche
Großstädter, alte und behinderte Menschen und Personen aus niedrigen sozialen
Schichten werden häufiger eingewiesen als etwa Vermögende. Auch eine Studie der
Universität Siegen aus dem Jahr 2006 weist auf subjektiv motivierte
Einweisungen hin: So würden manisch-depressive Chefs eher als cholerisch
eingestuft, wohingegen arme Menschen mit denselben Symptomen schneller als
psychisch krank eingeschätzt würden."[12] Auch der Bundesverband der Berufsbetreuer (BdB) steht Zwangseinweisungen
gelegentlich kritisch gegenüber. Klaus Förter-Vondey, Vorsitzender des BdB: „...besser geschulte Betreuer würden dramatisch weniger
Zwangseinweisungen veranlassen... Anfänger würden häufig aus Angst zu schnell
einliefern lassen, viele ehrenamtliche Betreuer hätten keinen blassen Schimmer,
mit welchen Erkrankungen sie es zu tun hätten."[13] Das „Deutsche Ärzteblatt" berichtet im Dezember 2011 von einer
drastischen Zunahme der Zwangseinweisungen und erklärt diese mit einer
weitreichenden Lockerung der Vorschriften im PsychKG. Demnach dürften bei
„Eilbedürftigkeit" seither die Betreuer sofort einweisen lassen und müssen sich
die richterliche Genehmigung erst hinterher besorgen. Die Bedeutungslosigkeit
bzw. die auf den bloßen Zweck der Kassenabrechnung reduzierte Bedeutung einer
Diagnose wird so mit aller Deutlichkeit bestätigt. Zugleich wird deutlich, wie
wirkmächtig einmal ausgeschriebene Diagnosen sein können. Selbst dann, wenn
deren Erstellung lange zurückliegt und für keinen amtlichen „Experten" mehr
nachvollziehbar ist, wie es konkret um den Diagnostizierten bestellt ist.
Immerhin kommt es nicht selten vor, dass Verantwortliche in den psychiatrischen
Anstalten viele Zwangseingewiesene nach relativ kurzer Zeit wieder nach Hause
schicken, wenn zu offensichtlich ist, dass die Betreuer hier mehr ihren eigenen
Ängsten folgten anstatt denen der Betroffenen.
Vergegenwärtigt
man sich die Geschichte der Psychiatrie, wie sie z. B. von Dörner[14] oder Foucault[15] beschrieben wurde, stellt sich heraus, dass
Zugang und Haltung der Gesellschaft gegenüber ihrem psychischen Elend im
Allgemeinen und den davon betroffenen Individuen im Besonderen einem stetigen
Wandlungsprozess unterliegen, welcher durch die Geschichte der politischen
Ökonomie und deren jeweiligem Zeitgeist weitgehend determiniert ist.[16] Erscheinungsformen, sprich: Symptome der
Verwirrung, des Wahns oder extremer Gefühlszustände, werden nach den jeweiligen
Erfordernissen der gesellschaftlichen Verhältnisse (Produktionsprozess,
politischer und ideologischer Überbau) beschrieben, gedeutet und, wenn nötig,
wieder umgedeutet. Dementsprechend kann man in beinahe jeder neuen Auflage der
offiziellen Diagnosemanuale jeweils Neues entdecken. Was sie trotz der
politischen Brisanz, die sich dahinter verbirgt, jedoch nicht spannender macht.
Die
politische Brisanz solcher Manuale lässt sich u. a. daran ablesen, dass z. B.
Homosexualität als Erscheinungsbild einer „psychischen Störung" aus den
psychiatrischen Manualen herausgenommen werden musste (DSM,1973), nachdem die
Emanzipationsbewegungen sowie mutige Aufstände von Menschen mit homosexuellen
Neigungen in den Industriemetropolen der 1960er und 1970er Jahre dafür Sorge
trugen, dass sich in einem darauf folgenden, breiten gesellschaftliche Diskurs
das Konstrukt von der Homosexualität nachhaltig veränderte. Eine
kritisch-wissenschaftliche Einschätzung, dass es sich bei der Homosexualität
nicht um eine „psychische Störung" sondern vielmehr um eine
„physisch-emotionale Neigung" handelt, war zu diesem Zeitpunkt längst erbracht.
Bereits Freud vertrat vorsichtig die Ansicht, dass eine dem menschlichem Wesen
immanente Bi-Sexualität bestehe, die sich „naturwüchsig" in die eine
oder andere Richtung entwickeln kann. Die umfangreichen wissenschaftlichen
Arbeiten von Magnus Hischfeld und anderen renommierten Psychologen und
Medizinern diesbezüglich waren dem Forschungsbetrieb, auch in Deutschland nach
dem Ende des 2. Weltkrieges, seit Jahrzehnten wieder zugänglich. Es war nicht
eine „neue wissenschaftliche Erkenntnis" bzw. die Zurkenntnisnahme
wissenschaftlicher Untersuchungen, welche die Zuschreibungen in den
Diagnosemanualen gegen Homosexuelle zu Fall brachte, sondern ein politischer
Kampf! Der „Christopher-Street-Day" ist, so betrachtet, auch als ein
Etappensieg gegen die Gewalt der Psychiatrie zu feiern.
Die
Diagnose eines Psychiaters oder Psychologen beschreibt Symptome und fasst
Symptome zusammen. Bei „ausreichender Symptomverdichtung" (vereinfachtes
Beispiel: 5 von 10 der beobachteten Symptome stimmen mit den vorgegebenen
Beschreibungen des jeweiligen Manuals überein) hat der Diagnostiker das Recht,
seiner Diagnose einen Namen und seinen Diagnostizierten eine Zuschreibung zu
verpassen. Derart simpel entsteht die Konstruktion einer Psychose und eines
Psychotikers. Oder einer Depression und einer Depressiven... ohne dass heute irgendein
„Experte" wirklich weiß, was eine Psychose, Depression usw. für das betroffene
Individuum bedeutet, wie sie sich entwickelt hat und wie sie erlebt und
empfunden wird. Ob sie sich einmalig, vorübergehend oder latent entwickelt und
wovon dieser Entwicklungsprozess jeweils individuell abhängig ist. Diagnosen
beschreiben alles Mögliche - aber sie erklären nichts!
Durch den
Abgleich eigener, mehr oder weniger oberflächlicher Beobachtungen mit den Vorgaben
aus medizinischen Manualen stellte der SpD in Berlin, gemäß seiner Gewohnheiten,
vermutlich auch bei Andrea so eine Symptomverdichtung fest. Was im gegebenen
Kontext dazu führen musste, dass Andrea als Gefahr für sich selbst und ihre
Umwelt (zu der selbstredend auch diese Diagnostiker gehören) wahrgenommen,
eingeschätzt und festgeschrieben wurde. Die panischen, möglicherweise
paranoiden Reaktionen von Andrea im Angesicht einer für sie bedrohlichen
Ansammlung martialisch gekleideter, bewaffneter Männer gaben dann nur noch eine
weitere Rechtfertigung für die vorangegangene Diagnose ab. Wie immer die Diagnose
auch im Einzelnen gelautet haben mag: die reale Bedrohung für Andrea
wurde darin jedenfalls vorsorglich ausgeklammert.
Eine
Diagnostizierung des Todesschützen wurde hingegen von niemand verlangt. Genauso
wenig wie eine selbstkritische Reflexion in den Reihen des SpD. Warum auch? Eine
tröstende Supervision wird das angeknackste Selbst, den der Tod von Andrea
möglicherweise bei den einen oder anderen Berufsbetreuer und der Kollegen des SpD
hinterlassen hat, schon irgendwie richten. Wären Letztere allerdings im Nachherein
von ihrer diagnostischen Zuschreibung auch nur minimal abgewichen, hätte ihnen
das mit Sicherheit mächtigen Ärger eingebracht. Da der akademisch ausgebildete
Helfer als solcher selbstverständlich bzw. seinem Selbstverständnis nach nicht
als Bauernopfer vorgeführt werden will, wird er tunlichst seine Zuschreibungen
rechtfertigen. Insgeheim erahnt der unglückliche Helfer natürlich die Funktion
seiner Diagnosen als alltägliches Produkt des Verblendungszusammenhanges zur
Aufrechterhaltung eines vom realen Wahn des Sachzwangs dirigierten
Gesellschaftsystems.[17]
Die
Manuale für Diagnosekriterien liefern die Orientierungslinie für das eigentlich
absurde Unterfangen, Subjekte zu objektivieren. Sie werden quasi jährlich
erneuert. Das heißt, dass der jeweilige Inhalt dieser Manuale dem jeweiligen
Zeitgeist, der herrschenden Meinung ausgesetzt ist. Was hier ohne Umschweife als
Meinung über die Beherrschten zum Ausdruck kommt. Die Beschreibungen der
jeweiligen Symptome werden von Auflage zu Auflage ständig erweitert,
modifiziert, umgeschrieben, neu geordnet. Den ganzen Aufriss nennt man dann wissenschaftlichen
Fortschritt.
Das
letzte Jahrzehnt bescherte uns u. a. eine geradezu inflationär angewandte Zuschreibung
für aufmüpfige Kinder in Form eines diagnostizierten „Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom
mit Hyperaktivität" (ADS/H). Mit verheerenden Auswirkungen für die betroffenen
Kinder, von denen es in psychiatrischen Einrichtungen mittlerweile, im wahrsten
Sinne des Wortes, nur so wimmelt. Wobei die Bezeichnung
„Aufmerksamkeitsdefizit" an sich schon verräterisch ist. Oder denken wir an das
im Volksmund sog. Burn-Out-Syndrom für ausgelaugte, erschöpfte Lohnabhängige. Oder
das seit einigen Jahren stark in Mode gekommene, mittlerweile allgegenwärtige „Borderline-Syndrom"
als Beschreibung für alle möglichen Menschen, die der geneigte Sozialarbeiter
oder Psychologe nicht mehr oder noch nicht als „Schizophrene" oder „Manisch-Depressive"
einordnen kann. Über die er aber dennoch glaubt zu wissen, dass diese sog. „Schwarz-Weiß-Denker"
in ihrer Persönlichkeit irgendwie gespalten sind. Und zwar offenbar ganz im
Gegensatz zur Mehrheit der Gesellschaft (?). Derart wird das eigene dualistische
und mechanische Denkschema, welches man bei professionellen Helfern nicht
gerade selten antrifft, als Empfindung und Gedanke des Betroffenen uminterpretiert.
Solche Vorgänge bezeichnete Freud einst als Projektionen. Also als Abwehrmechanismus
- in diesem Falle des neurotischen Helfers gegenüber dem Objekt seiner Profession.
Dieser
Psychomainstream hängt, neben der üblichen Erklärungsnot der Psychiatrie
gegenüber jedem (epidemisch) auftretenden, unerwünschten Verhaltensmuster in
der Gesellschaft, nachweislich auch mit
dem Warenangebot der Pharmaindustrie zusammen. (Siehe weiter unten). Die
permanente Ausdifferenzierung von Diagnosekriterien entspricht der und bedingt
die Angebotsdiversifikation auf dem Pharmamarkt und umgekehrt. Derart dem
Marktgeschehen unterworfen und dem warenförmigen Charakter menschlicher
Beziehungen im Kapitalismus angeglichen, sagen die Diagnosekriterien weder
etwas über die gesellschaftliche Dimension psychischer Verelendung, noch über
die Einzigartigkeit der von diesem Elend konkret betroffenen Individuen etwas
aus. Sie sind zur bloßen Berechnungsgrundlage für das „Gesundheitssystem" und zum
Designkriterium für die Pharmaindustrie
heruntergekommen. Nicht mehr und nicht weniger.
Durch denkfaule
und zugleich pflichtbewusste professionelle Helfer bekommt die Diagnostik
schließlich den ihr zustehenden Fetischcharakter eingeräumt. Die Funktion eines
Fetischs besteht darin, hier waren sich Freud und Marx mit Hegel einig, sich
weitgehend unbemerkt zwischen wirkliche, lebendige menschlichen Beziehungen zu
stellen. Mit dem alleinigen Zweck ein Abhängigkeits- bzw. Herrschaftsverhältnis
in den Beziehungen zu verleugnen und/oder zu verdrängen. In diesem Fall konkret
das Beziehungsverhältnis zwischen professionellen Helfern und ihrer Klientel.
Das erkannte in den 1970er Jahren, nach langjähriger eigener Praxis,
schließlich auch der Psychiater D. Cooper: „Die von der Psychiatrie verübte
Gewalt lässt sich nur aufgrund ihres fundamentalen Dogmas verstehen: wenn du
nicht verstehst, was ein anderer tut, dann diagnostiziere ihn!"[18]
Berechnungen
Das Bundesministerium für Gesundheit vermeldete im
ersten Halbjahr 2009, nach Ausrufung der Finanzkrise, euphorisch einen
historischen Rekordtiefstand der offiziellen Krankenstand-Statistik seit ihrer
Einführung im Jahr 1970.[19]
Besagte Statistik wurde eingeführt in einer Zeit, in
der die Arbeitsmoral in den Industriegesellschaften einen bemerkenswerten
Zerfallsprozess durchleben musste. Rebellische (in erster Linie) jugendliche
Proletarisierte denunzierten seinerzeit den kapitalistischen Arbeitsalltag in
ihren Debatten und Aktionen offen als Zumutung. Als vergeblichen Kraftaufwand, verschwendete und enteignete
Lebenszeit. „Wer will noch arbeiten?" So oder ähnlich titelten Newsweek, Times,
Spiegel, Zeit und diverse andere Meinungsmacher in den 70er Jahren des 20.
Jahrhunderts. Dieser weltweite politische Aufbruch, der vor keinem Thema Halt
zu machen schien und nicht zuletzt auch die psychische Verelendung im
Kapitalismus thematisierte, lässt sich kaum erschließen, wenn die dem
zugrundeliegende Dynamik aus massenhaft wahrgenommener Entfremdung im
Arbeitsalltag nicht zur Kenntnis genommen wird. Ein Text wie „Das
Recht auf Faulheit" (Paul Lafarge) wurde in dieser Zeit, beinahe Hundert
Jahre nach seiner Ersterscheinung, einer der weitverbreitesten innerhalb der
rebellischen Jugend Europas. „Ne travaillez jamais" (arbeitet nie) wurde
zu einer der zentralen Losungen im Kampf gegen die „kapitalistische
Zwangsarbeit" während des Pariser Mai `68. „Die Kämpfe in ihren unterschiedlichen Formen liefen in einem einzigen
Punkt zusammen, und dieser Punkt war die Wiederaneignung der Zeit."[20] Eine dieser vielen Widerstandsformen,
die den Zweck der unmittelbaren „Wiederaneignung
der Zeit" dienten, kam zweifellos darin zum Ausdruck, dass das „Blaumachen"
unter den jungen Rebellen umso mehr um sich griff, je mehr das als Schuldgefühl
verinnerlichte Pflichtbewusstsein gegenüber den Käufern ihrer Arbeitskraft vor ihrem
neuen Selbstbewusstsein zurückwich. Das „Blaumachen" war und ist nichts anderes
als die (individuelle) Weigerung, sich durch entfremdete Arbeit (psychisch) krank
machen zu lassen. Und die „Blaumacher" wussten das seinerzeit!
Dieses den Sachzwängen des
Kapitals zweifellos entgegenlaufende Verhalten musste vom Staat erfasst werden,
um dem Spuk angemessen begegnen zu können. In der bürgerlichen
Sozialwissenschaft erschöpft sich das Erfassen eines gesellschaftlichen
Phänomens oftmals im Erstellen einer Statistik. Hier meldet sich die
Krämerlogik, die vor allem eines, nämlich eine Berechnungsgrundlage braucht.
Vor diesem Hintergrund wurde schließlich 1970 das Erstellen einer jährlichen
Krankenstand-Statistik in Auftrag gegeben.
Dies und die darauf
folgenden moralischen Kampagnen der bürgerlichen Medien gegen den Verfall der
Arbeitsmoral insbesondere der Jugend brachten indes kaum den erhofften Erfolg.
Der Krankenstand, also der Arbeitsausfall durch Krankmeldungen, stieg zum
Leidwesen der Herrschenden vorerst noch ständig weiter an. Nicht die Klagen der
bürgerlichen Medien gegen die schwindende Arbeitsmoral, sondern die steigende
Arbeitslosigkeit wirkte sich schließlich zugunsten wieder sinkender Arbeitsausfälle
auf Grund von Krankheit (bzw. Krankheitsvorbeugung) aus. Während sich die Zahl
der Erwerbslosen zwischen 1975 und 1995 in etwa verzehnfachte, sank die Zahl
der krankheitsbedingten Arbeitsausfälle in den Betrieben in diesem Zeitraum
kontinuierlich, um sich während der 80er Jahre - beinahe analog zu den
Arbeitslosenstatistiken - allmählich auf einen Durchschnittswert einzupendeln. Die
Bourgeoisie glaubte, dank ihrer Techniken zur Abwälzung der Krise auf die
Lohnabhängigen endlich wieder eine einigermaßen verlässliche
Berechnungsgrundlage für ihr "Humankapital" in der Hand zu haben. Die Angst der
Lohnabhängigen vor dem Erwerbsverlust sowie ihre zunehmende Vereinzelung nach
dem allgemeinen Rückfluss der Klassenkämpfe und Jugendrevolten führten die
Klasse auch zurück in die Vernachlässigung ihrer vitalen Interessen. Wozu
zweifellos auch der Erhalt der Gesundheit gehört.
Ab 2005, etwa zeitgleich
mit der Einführung der Hartz-Gesetze und der ersten Phase des Umbaus im
Gesundheitssystem zum Nachteil der abhängig Beschäftigten unter Rot-Grün,
sanken die krankheitsbedingten Arbeitsausfälle nochmals erheblich, um dann im
ersten Quartal 2009, kurz nach der öffentliche Bekanntgabe der Finanzkrise, auf
den vom Statistischen-Bundesamt so betitelten „historischen Tiefstand" zu fallen. Die Bourgeoisie ließ es sich
nicht nehmen, diese für sie so erfreuliche Nachricht durch ihre Medien lauthals
hinausposaunen zu lassen.
Die Krankenkassen hielten
jedoch schon bald besorgt dagegen. So
wussten die Betriebskrankenkassen (BKK) ab Mitte Dezember 2009 zu berichten,
dass die krankheitsbedingten Fehlzeiten „trotz
Wirtschaftskrise" (sic!) wieder kontinuierlich ansteigen würden. Von Januar
bis Oktober 2009 habe der Krankenstand bei 4,0 Prozent gelegen - im
Vorjahreszeitraum seien es 3,8 Prozent gewesen. Ebenso die AOK: Die bei den
Ortskrankenkassen versicherten Arbeitnehmer waren im zweiten Quartal 2009 im Durchschnitt
an 17 Kalendertagen krankgeschrieben. Im Jahr zuvor waren es noch 16,3 Tage
gewesen. Demnach stieg die Zahl der krankheitsbedingten Ausfalltage um 3,2
Prozent und ist seither weiter steigend. Das hatte u.a. zur Folge, dass der Druck des Kapitals auf die politische
Kaste weiter anstieg, so dass diese bis auf weiteres aufgefordert bleibt, das „Gesundheitssystem"
an die aktuellen Bedürfnisse des Kapitals anzupassen.
Verantwortlich für den steigenden Krankenstand seien
laut AOK, bei der immerhin 9,7 Millionen Arbeitnehmer versichert sind, vor
allem die „Zunahme psychischer
Erkrankungen". Die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seien in
den letzten 15 Jahren um stattliche 80% angestiegen. Im Vergleich zu anderen
Erkrankungen sind psychische Erkrankungen zudem in der Regel mit langen
Arbeitsausfällen verbunden. Letzteres bestätigen alle Krankenkassen. Ein Bericht
der „International Labour Organisation" (ILO), einer Organisation, die sich mit
Arbeitsbedingungen weltweit auseinandersetzt und den Vereinten Nationen
unterstellt ist, fasst verschiedene Untersuchungen zum Zustand der psychischen
Gesundheit am Arbeitsplatz zusammen, die in Deutschland, Finnland,
Großbritannien, Polen und den USA durchgeführt wurden. In diesen Ländern habe
demnach die Belastung durch Stress sowie das Auftreten von Depressionen
deutlich zugenommen. Jeder zehnte Arbeitnehmer sei bereits davon betroffen.
Nach dem Herzinfarkt, so die ILO, ist Depression mittlerweile zur weltweit
zweithäufigsten Krankheit unter denen geworden, die zur vollständigen
Arbeitsunfähigkeit führen können. In
Deutschland gehen die zuvor an erster Stelle rangierenden arbeitsbedingten
Erkrankungen durch Unfälle oder Umweltbelastungen (Lärm, extreme Temperaturen
usw.) in erheblichem Maße zurück,[21]
während Arbeitsausfälle in Folge von Überbelastung, Zeitdruck, Stress aufgrund
allgemeiner Personalpolitik fast ebenso zunehmen. Vor allem die zunehmend
geforderte Flexibilität führe, laut einer Studie von Betriebsärzten, wegen der „Ergebnisorientierung", also der Orientierung
auf kurzfristige Profitmaximierung, des „Verschwimmens
der Grenze zwischen Arbeit und Privatleben", der allgemeinen „Überbelastung durch Mehrarbeit" sowie
der „Unvorhersehbarkeit" der
Arbeitsanforderungen zu psychischen Belastungen. Deutsche Betriebsärzte warnen daher ebenfalls vor einer weiter
ansteigenden Zahl psychischer Erkrankungen im Arbeitsalltag: „Der Strukturwandel in der Arbeitswelt hat
dazu geführt, dass heute in vielen Betrieben Zeitdruck, Zwang zu schnellen
Entscheidungen und zwischenmenschliche Probleme wesentliche
Belastungsschwerpunkte darstellen." So der Präsident des Verbandes
Deutscher Betriebs -und Werksärzte, Wolfgang Panter, auf einer Tagung in
Lübeck. Dies führe zunehmend zu arbeitsbedingten psychischen und
psychosomatischen Erkrankungen. Darunter fallen neben den offensichtlichen
Symptomen psychischer Belastung auch diverse Hautkrankheiten sowie diverse
Erkrankungen innerer Organe, die in besonderem Maße als stressanfällig gelten
(Magen, Nieren, Herz etc.). Die Betriebsärztevereinigung sieht aufgrund
ihrer Recherchen „besonderen Handlungsbedarf in der Zeitarbeitsbranche",
so der Arbeitsmediziner, denn dort sei die Gefährdung durch psychische
Belastungen besonders hoch. Zugleich umfasst die Zeitarbeitsbranche immer mehr
Berufe und dehnt sich dank der Hartz-Gesetze unaufhörlich weiter aus. Wie
kürzlich der Öffentlichkeit bekannt wurde, sind bereits mehr als 8 Millionen
Lohnabhängige in Deutschland in Zeitarbeitsfirmen oder in anderen prekären
Arbeitsverhältnissen eingebunden.
„Stress, mangelnde Unterstützung
durch Kollegen und Vorgesetzte, wenig Anerkennung und Wertschätzung, hohe
Leistungsbereitschaft, Verantwortungsübernahme und starke Identifizierung mit
dem Betrieb", so die o.g. ILO-Studie aus dem
Jahre 2010 weiter, führe „zum wachsenden
Problem des Burnouts", der mittlerweile in allen Berufen auftrete. Als
Folge des Burnouts kommt es vielfach zu Depressionen, unter der laut ILO
mindestens 6% aller deutschen Arbeitnehmer leiden - also zwischen zwei und drei
Millionen. Die ILO weiter: „Depressionen
treten heute in Deutschland zehnmal häufiger auf als noch vor 40 Jahren" (...also
während der Zeit der Revolten!). Zudem sind die davon Betroffenen immer jünger!
Eine Firma, die mehr als 1000 Angestellte hat, könne laut ILO davon ausgehen,
dass 200 bis 300 von ihnen jährlich Depressionen, Angstkrankheiten oder andere
psychisch bedingte Krankheiten erleiden. Der ILO-Bericht geht weiter davon aus,
dass derzeit 20% aller arbeitenden Menschen weltweit psychisch erkrankt sind
und dass in Bälde über 300 Millionen Menschen an Depressionen leiden werden.
Jetzt schon würden aufgrund von Depressionen jährlich weltweit ca. 800.000
Menschen Suizid begehen. Depressionen
und Angststörungen sind zusammengenommen, nach Angaben des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen,
mittlerweile die vierthäufigste Krankheit am Arbeitsplatz und zugleich der
Hauptgrund für vorzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf geworden. Auch seitens der
Rentenversicherungsträger wird darauf verwiesen, dass bereits ein Drittel aller
Rentenanträge, die vor Eintritt in das reguläre Rentenalter gestellt werden,
wegen Berufsunfähigkeit aufgrund von psychischen Erkrankungen genehmigt werden
müssen. Damit werden die Studien der Krankenkassen und der ILO nochmals
unterstrichen.
Die BKK beklagt des Weiteren eine besondere
Gefährdung spezieller Personengruppen: „Arbeitslose
weisen die steilsten Steigerungsraten bei psychischen Krankheiten auf: Sie
haben im Vergleich zu den Beschäftigten fast viermal so lange Krankheitszeiten
durch seelische Leiden; allein in den letzten drei Jahren verdoppelten sich
ihre psychisch verursachten Krankheitstage. Bei beschäftigten Frauen sind
Telefonistinnen, Krankenpflegerinnen und Sozialarbeiterinnen, bei den Männern
Schienenfahrzeugführer und Fahrbetriebsregler wie auch Krankenpfleger besonders
betroffen." In einigen Branchen sind psychisch bedingte
Krankheiten dramatisch
im Vormarsch. So vor allem in sog. helfenden und pflegenden Berufen
(Pflegepersonal, Sozialarbeit usw.). Das macht deutlich, wie nahe diese Kollegen
und Kolleginnen dem Schicksal ihrer Klienten sind. Es führt jedoch nur selten
dazu, dass die künstliche Trennung zwischen ihnen - professionelle Distanz"
genannt -[22] überwunden werden kann. Der Anteil der betroffenen Frauen in diesen
Berufsgruppen liegt übrigens bei deutlich mehr als 60%.
Durchschnittlich fallen die Kolleginnen aus helfenden
und pflegenden Berufen mittlerweile mehr als dreimal so oft aus dem
Arbeitsprozess aus als aufgrund anderer Krankheiten. Innerhalb dieser
Berufsgruppen rangieren die Arbeitsausfälle wegen psychischer Belastungen
deshalb unbestritten auf Platz 1 der Krankenstand-Statistik. Als Gründe werden
von den Betroffenen selbst meistens ein vergiftetes Betriebsklima, erhöhter
Leistungsdruck, die Vermischung von Privat- und Berufsleben mit ständiger
Erreichbarkeit (durch die neuen Medien) und Rufbereitschaft angegeben. Hinzu
kommt eine krisenbedingte zunehmende Angst um den Arbeitsplatz. Alle
Studien gehen deshalb auch von einer mehr oder minder hohen Dunkelziffer an
psychischen Erkrankungen aus.
Demnach wäre der statistisch wahrscheinlichste Fall einer
psychischen Erkrankung derzeit: die
depressive, erwerbstätige, alleinstehende Frau (Mutter), die über eine
Zeitarbeitsfirma in der Pflegebranche beschäftig ist.
Der Sprecher des psychologischen Dienstes der DAK,
Frank Meiners, redet ebenfalls deutlich von „Job-Angst,
Arbeitsverdichtung und wachsenden Konkurrenzdruck", worauf die Versicherten
offenbar immer mehr mit psychischen Erkrankungen reagieren. Psychische
Krankheiten sind laut DAK besonders in den Metropolen auf dem Vormarsch. Dabei
seien in den vergangenen Jahren Berlin und Hamburg Spitzenreiter gewesen. Der
DAK-Gesundheitsreport ergab zudem, dass auch ihre Versicherte aus dem Bereich
Gesundheitswesen aufgrund psychischer Krankheiten mit 210 Fehltagen pro 100
Versicherte vorne liegen. „Als Folge der
Krise sei eine weitere Zunahme der psychischen Erkrankungen zu erwarten",
so auch Matt Muijen vom Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Zahlreiche Studien belegen laut Muijen, dass ein Zusammenhang zwischen „ökonomischer Krise und einer epidemischen
Verbreitung" psychischer Erkrankungen statistisch nachweisbar sei. Und nach
einer Studie des „Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit/Indigo" können zwei
Drittel der psychisch Erkrankten langfristig nicht mehr am Arbeitsmarkt Fuß
fassen. Von den Menschen mit schweren Depressionen sei nur noch jeder Zehnte im
ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Noch dramatischer wird allgemein der soziale
Abstieg für Menschen mit psychotischen Episoden
eingeschätzt.
Die begründete, existenzielle Angst vor einem
krisenbedingten Verlust des Arbeitsplatzes, die in allen o. g. Studien als häufige Bedingung für eine
psychische Erkrankung dargestellt wird, führt durch das Ausleben dieser Angst
(Symptombildung) bei manchem schließlich zum tatsächlichen Verlust des
Arbeitsplatzes. Dieser Vorgang wird von einigen Psychologen dann als Prozess
einer „self-fulfilling prophecy" mystifiziert
- sprich: Einkommensverlust aufgrund von negativen Gedanken. Ein blanker
Zynismus, der die Ursachen von psychischen Leiden bloß im „Innenleben" der
betroffenen Individuen selbst vermuten kann und will und sie deshalb
pseudowissenschaftlich verklären muss.
Mit der Zunahme an psychischen Erkrankungen geht, wie
kaum anders zu erwarten, zugleich ein weltweiter Aufschwung in der
Pharmaindustrie einher. Laut der internationalen Markforschungsorganisation
„IMS-Health" „...ist
der Umsatz der Arzneimittel gegen psychische Krankheiten und Beschwerden
weiterhin steigend. Antipsychotika (Neuroleptika) und Antidepressiva kommen
zusammen bereits auf einen Weltmarktanteil von über 6%." Das
bedeutet derzeit immerhin einen durchschnittlichen Jahresumsatz von ca. 40
Milliarden €. Bereits im 4. Quartal des Krisenjahres 2008 berichtet die BKK dementsprechend:
„Allein in den letzten drei Jahren (ab
2005 - Einführung der Hartz-Gesetze) haben
sich die Verordnungen von Psychopharmaka für Beschäftigte wie Arbeitslose etwa
verdoppelt."
Mit dem Milliardengewinn der Pharmaindustrie geht
eine weitere Milliardenverschuldung des staatlichen „Gesundheitssystems"
einher. So gesehen, bezahlen die noch „gesunden" Arbeitnehmer für den Profit
der Pharmaindustrie, um sich dann im eigenen Krankheitsfall mit immer
miserabler organisierter Versorgung abfinden zu müssen. Laut Berechnungen des
Statistischen Bundesamts liegen die „Krankheitskosten
durch psychische Störungen" bei mittlerweile mehr als 30 Milliarden €
jährlich. Eine Kostensteigerung von mehr als 30% (seit Hartz). Hieran ist auch
abzulesen, warum der Umbau des Gesundheitssystems, wie kaum ein anderes Projekt
der politischen Kaste, begleitet ist von Widersprüchen, Parteirivalitäten,
Verzögerungstaktiken und Skandalen. Hier wird die Rivalität zwischen
unterschiedlichen Kapitalfraktionen offen ausgetragen, und es wird allzu
deutlich, welche der parlamentarischen Parteien jeweils welche Kapitalfraktion
vertritt bzw. sich von deren Lobby schmieren lässt.[23]
Das Dilemma mit der Krankheit besteht für die
Herrschenden vor allem in der Tatsache, dass sie die an ihren Arbeits- und
Lebensbedingungen Erkrankten alimentieren lassen müssen, anstatt sich durch die
Verfügungsgewalt über deren Arbeitskraft und Lebenzzeit alimentieren zu lassen.
Wie kaum anders zu erwarten, wird deshalb jeder in dieser Beziehung zustande
kommende „Kompromiss" beim Umbau des Gesundheitssystems nie etwas anderes sein
können als eine weitere Abwälzungstechnik der anfallenden Kosten auf die Erkrankten
sowie auf die noch „gesunden" Lohnabhängigen. Derart gibt die Krise des „Gesundheitssystems"
ein gutes Bild ab von der allgemeinen ökonomischen und politischen Krise des
Kapitals. Die Herrschenden einigen sich darauf, die Krise abzuwälzen, was
letztlich immer nur ein Aufschub und keine Überwindung der Krise sein kann.
Dieser Aufschub produziert folglich zugleich die nächste, gewaltigere Krise.
Gesellschaftlich und also auch bei den Individuen.
Die von Psychiatern gerne als „vulnerabel"
bezeichneten, psychisch erkrankten Menschen, diejenigen also, die diesen
Abwälzungsprozess (unbewusst, weil vereinzelt) wahrnehmen, bevor die breite
Masse der Betroffenen das kann, werden unter diesen Bedingungen zu
Symptomträgern eines kranken Systems. Die objektive Krise des ökonomischen
Systems drückt sich bei den Individuen als psychische Krise vereinzelter
Subjekte aus. Diese verweigern sich durch Erkrankung den Anforderungen an das
„Humankapital" - und damit leider auch an sich selbst. Sie wirken eben dadurch
als Subjekt, in dem sie versuchen, sich dem Zugriff durch das Kapital zu
entziehen. Wenngleich oftmals unbewusst und daher mit der falschen Begründung
versehen, so doch meistens aus dem richtigen Grund. In ihrer Vereinzelung leider
vergeblich und meistens mit verheerenden Folgen für sich selbst. Auch dafür
steht der tragische Tod von Andrea H.
Zweck der Erstellung von Statistiken ist es,
Vergleiche zu ziehen. Im Falle von Krankenstandstatistiken u. a. auch den
Vergleich zwischen pflichtversicherten und privatversicherten Patienten. Also
zwischen eher wohlhabenden Erkrankten und solchen die nur über ein geringes
Einkommen verfügen. Es würde nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn das
Ergebnis eines solchen Vergleichs nicht darin bestünde, dass im Durchschnitt
Erstere seltener erkranken und schneller genesen als Letztere. Die Aussagen der
diversen o. g. Statistiken lassen daran auch keinen Zweifel aufkommen.
Krankheit, insbesondere psychische Krankheit, ist mithin im Kapitalismus in mehrfacher Hinsicht mit einem
Klassencharakter belegt. Ebenso deren Behandlung und somit auch die
Genesungsaussichten der Betroffenen. Das liegt nicht bloß an dem, was
augenscheinlich ist, nämlich die Möglichkeit einer besseren Versorgung und die
allgemein günstigeren Lebensumstände, welche wohlhabende Patienten den Armen in
der Gesellschaft voraushaben, sondern auch an dem weniger sichtbaren subjektiven
Zugang vieler armer Patienten zur „ihrer" Krankheit.
Lohnabhängige bekommen Krankheit vom Arzt bescheinigt
als (diagnostisch belegte) Arbeitsunfähigkeit. Indes ist hinreichend bekannt,
dass Ärzte sich immer schwerer damit tun, den Pflichtversicherten ihre
Arbeitsunfähigkeit zu bestätigen. Auch über diese Tatsache gibt die offizielle
Krankenstand-Statistik Auskunft. Das hängt u. a. damit zusammen, dass die den Kassen
verpflichteten Ärzte von seiten ihrer Brötchengeber in den letzten Jahren immer
mehr Druck und finanzielle Einschränkungen ihrer Behandlungsmöglichkeiten
erfahren mussten. Die Abwälzungstechnik der Bourgeoisie besteht hier, wie auch
sonst oft üblich, zunächst im Druck auf das Kleinbürgertum (die in diesem Fall
als niedergelassene Ärzte und Apotheker in Erscheinung treten), die diesen
Druck dann wiederum an die Betroffenen aus den sog. unteren gesellschaftlichen
Schichten weiterleiten. In Bezug auf psychische Krankheiten kommt hinzu, dass
Ärzte daran ohnehin nicht gerade viel verdienen können. Sie können z.B. bei
offensichtlich psychisch bedingten Erkrankungen keinen Einsatz von aufwendigen
technischen Apparaten abrechnen, haben selten Laboruntersuchungen zu leisten
und das Verordnen von Medikamenten für Menschen mit geringem Einkommen ist nach
den neuen Bestimmungen auch nicht mehr besonders erschwinglich für die Ärzte.
Wohl aber weiterhin für die Pharmaindustrie! Die ambulante Behandlung psychisch
Kranker ist zudem fast vollständig in die Hände von im Vergleich mit den
Medizinern geringer besoldeten Psychologen übergegangen, die den
niedergelassenen Ärzten (hier Psychiatern und Neurologen) deshalb als
Konkurrenten gegenüberstehen und die ihrerseits wieder von den Kassen
angehalten werden, ein bestimmtes Stundenkontingent für die Behandlung nicht zu
überschreiten. Auf bedürftige Lohnabhängige in den Metropolen kommt zudem
mittlerweile eine durchschnittliche Wartezeit von 6 Monaten und mehr für eine
ambulante psychotherapeutische Behandlung zu.
Zu diesen allgemeinen Erschwernissen, die in der Struktur
des „Gesundheitssystems" ihre unmittelbare Ursache haben, kommt hinzu, dass die
große Mehrheit der lohnabhängigen Patienten die ideologischen Botschaften
dieses Systems weitestgehend verinnerlicht und in allgemeine Verhaltensrituale
umgesetzt hat: Sie gehen in der Regel eben nicht dann zum Arzt, wenn sie sich
als krank empfinden, sich nicht wohl fühlen, sondern erst dann, wenn sie nicht
mehr in der Lage sind, arbeiten zu gehen! Dieses Verhaltensmuster setzt sich in
der Regel selbst dann noch fort, wenn die Betroffenen überhaupt keinen
Arbeitsplatz mehr haben. Krankheiten werden in den Schichten mit niedrigen
Einkommen daher meist viel zu spät erkannt und behandelt. Was die Genesung
zusätzlich erschwert. Als Erklärung für die Ärzteschaft dient dann die als
selbstverständlich vorausgesetzte „Bildungsferne" der unteren
Gesellschaftschichten, um diese dann mit oberflächlichen Aufklärungsbroschüren,
vulgärer Psychomagazine und sinnentleerter Lebensberatungsliteratur zu
überschwemmen.
Im Falle einer psychischen Erkrankung, die ohnehin
meist sehr spät als solche von den Betroffenen wahrgenommen wird und zudem nach
wie vor äußerst schambesetzt ist, nimmt die Wechselwirkung zwischen zunehmendem
Mangel an Versorgungsangeboten und dem an seine Funktion für das Kapital
gebundenen Empfinden und Bewusstsein der betroffenen Lohnabhängigen
mittlerweile die verheerenden Ausmaße an, die in der Krankenstand-Statistik
zunehmend als negative Bilanz auftauchen.
Nach der Psychologisierung des Alltags, vermittelt und
potenziert durch Werbung und Ratgeber-Literatur, welche die Psychologie in den
letzten Jahrzehnten umfangreich und nachhaltig vulgarisiert haben und diese mittlerweile
als eine Art „Volksreligion" präsentieren, folgt nun die zunehmende Psychiatrisierung
ihrer Konsumenten. Die als Fluchtversuch aus der eigenen Entfremdung angelegte
psychische Krise wird in dem Moment, wenn die persönliche mit einer
gesellschaftlichen Krise zusammenfällt, zur Falle, in der die Individuen in
zunehmende soziale Isolation geraten. Der ökonomische und soziale Abstieg wird
unter dieser Voraussetzung für die meisten Betroffenen unausweichlich.
Ausbreitung
Jeder Wahn
ist ansteckend bzw. sozial übertragbar. Über die Übertragungswege weiß die
psychologische und psychiatrische Zunft allerdings nicht sehr viel zu sagen.
Jedenfalls nicht genug, um verständlich zu machen, warum der Wahn hier
ausbricht und dort nicht. Oder besser, warum er hier auf unerwünschte und dort
auf angepasste Art ausbricht. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sich hinter
jedem Wahn, jeder Verwirrung und jedweden psychischem Elend jeweils zwischenmenschliche
Ereignisse verbergen. Frei nach Marx wäre der Wahn, als grundsätzliche
Möglichkeit menschlicher Tätigkeit verstanden, nicht ein dem einzelnen
Individuum innerwohnendes Abstraktum, sondern in seiner
Wirklichkeit nur als ein verinnerlichtes Ensemble gesellschaftlicher
Verhältnisse zu begreifen.[24] Im gegenwärtigen kulturellen und politischen
Umgang mit dem Wahn und allem, was sonst als „psychische Störung" wahrgenommen
wird, zeigt sich das Elend menschlicher Beziehungen und Verhältnisse im
Kapitalismus und der verzweifelte Versuch von Individuen, diesem Elend von
Episode zu Episode auszuweichen. Und es gibt jede Menge gute Gründe und jede
Menge Möglichkeiten für das Individuum, sich der Weltfremdheit hinzugeben.
Als
Erscheinung/Symptom unbefriedigender, dem menschlichem Begehren
entgegenwirkender Beziehungen und Verhältnisse müsste jeder Ausdruck
psychischem Elends aus all den genannten Gründen zum Untersuchungsgegenstand einer
die Psychologie ergänzenden, kritischen Anthropologie, einer Kulturkritik und,
last but not least, einer Kritik der
politischen Ökonomie werden, um einem Verständnis vom Leid der Betroffenen
sowie der zunehmenden Ausdehnung des psychischen Elends wenigstens ansatzweise
näher kommen zu können.
Bei allen
Erscheinungsformen, ob als Depression, Manie, Paranoia, Autismus... handelt es
sich lediglich um den krisenhaft auf die Spitze getriebenen Widerspruch
zwischen Empfindungen und Gedanken, der seinem (anthropologischem) Möglichkeiten
nach allen Menschen gemein ist und aus den Antagonismen des ihren Beziehungen
zueinander determinierenden, krisenhaften Gesellschaftssystems entspringt.
Krisen, die die Gemüter zum Äußersten treiben, markieren die Geschichte der Menschheit
ebenso wie die Geschichten der einzelnen Individuen. Aber „die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum
Menschen... Die in der menschlichen Geschichte - dem Entstehungsakt der
menschlichen Gesellschaft - werdende Natur ist die wirkliche Natur des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die
Industrie, wenn auch in entfremdeter Gestalt wird, die wahre anthropologische Natur ist."[25]
Das
psychische Elend, was demnach weniger ein Elend der Psyche, des psychischen
Apparates, wie Freud sich ausdrückt, ist, als vielmehr das Elend einer durch
und durch warenförmigen Gesellschaft, wird von uns allen geteilt. Wir verstehen
es jedoch, ganz diesem Verhältnis entsprechend, alle Anteile des
Gemeinwesens unterschiedlich und in Konkurrenz zueinander zu verteilen,
bis schließlich dieses ebenso verteilte psychische Elend uns selbst voneinander
trennt. Je mehr die Beschleunigung der Produktivität die Teilung der Arbeit (= die
Proletarisierung der Welt) vorantreibt, desto mehr entfremdet sich der Mensch
als bloße Abteilung von dieser Welt und damit von sich selbst. So ist
die Entfremdung uns zur Natur geworden. Und genau das sehen wir im Spiegel in
der Hand des Narren: Das eigene Fremde. Die Weltfremdheit des Narren ist aber
zugleich auch seine eigene Selbstfremdheit. Der Narr wirkt deshalb paradox,
weil die Wirklichkeit paradox ist. Der Narr verhält sich in Bezug zu den
kulturellen Normen absurd, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese
Normen hervorbringen, absurd sind. Darum wurden und werden Narren interniert!
Dass Symptome, die jeweils unter „psychische
Erkrankung" zusammengefasst werden, zeitweise epidemischen Charakter annehmen,
ist ein Phänomen, welches die Klassengesellschaften immer begleitet hat und stets
in Situationen gesellschaftlicher Umbrüche verstärkt zum Vorschein kommt. Das
ist hinreichend historisch belegt.[26]
Psychische Krankheiten treten jedoch stets episodisch in Erscheinung, auch dann
wenn sie als chronisch wahrgenommen und diagnostiziert werden. Kein Mensch ist somit
durchgehend psychisch krank - oder alle sind es! So wie beim einzelnen,
individuellen verhält es sich auch beim epidemischen, also massenhaften
Auftreten von gleichen Symptomen. Es handelt sich immer um Episoden in Folge
von persönlichen Krisen, welche dann, in Zeiten gesellschaftlicher Krisen,
auffällig mehr Menschen treffen. Was wir heute als psychische Verelendung
wahrnehmen und deuten, steht mithin im Zusammenhang mit der allgemeinen
Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft. Z. B. als das Ergebnis ihres
Zerfalls. Oder auch bloß als Ergebnis der Ohnmacht, welche die Individuen
täglich produzieren, indem sie die Macht des Kapitals produzieren. Die
Geschichte der psychischen Verelendung ist mithin die Geschichte von Symptom
tragenden Subjekten in einer von ihnen selbst mit gestalteten, krankmachenden sozialer
Umgebung.
Wunschdenken
Zu
guter Letzt: Ein gesellschaftskritisches Milieu ohne einen kritischen Begriff
von der Psychologie und ohne eine realistische Einschätzung der psychischen
Möglichkeiten und Grenzen ihre Subjekte bleibt zum Selbstverschleiß verurteilt.
Das beweist die alltägliche Praxis im Ringen um Emanzipation, in der oftmals
ausgerechnet die Genussfähigkeit durch falsche Moral und unheilvolle Strukturen
vieler dieser Milieus gefesselt bleibt. „So
versinkt die Welt des Genusses in den Niederungen des Unbewussten. Später
werden die Psychoanalytiker, die Entdecker absichtlich versunkener Kontinente,
Strandräuber spielen; sie werden die Objekte der Begierde und des Abscheus an
die Oberfläche bringen und sie ihren Eigentümern wiederverkaufen, die häufig
nichts mehr damit anzufangen wissen..."[27] Es ist an der Zeit, dass wir uns dem
psychischen Elend in der Gesellschaft, welches nicht zuletzt auch unser eigenes
ist, wieder praktisch und theoretisch nähern. Dabei wird es nicht darauf
ankommen, sich die Errungenschaften der „Anti-Psychiatrie-Bewegung" der 1970er
Jahre bloß wiederanzueignen und deren Praxis zu reproduzieren. Vielmehr sollten
diese Errungenschaften in einem neuen (Selbst-)Verständnis aufgehoben werden.
Es kann dabei nicht, wie in der Vergangenheit oft falsch verstanden, um die Psychologisierung
der Politik gehen,[28]
sondern nur um die Politisierung der Psychologie!
[1] SPK: „Aus der Krankheit eine Waffe
machen“, München 1972, S. 51
[2] Cornelius Castoriadis, „Durchs
Labyrinth – Seele, Vernunft, Gesellschaft“, Frankfurt a. M., 1981 (Paris 1978),
S. 7
[3] Me-Ti, Buch der Wendungen
[4] Siehe: „Tagesspiegel“, „taz“,
„Berliner Morgenpost“, „Berliner Zeitung“, Berliner Kurier“ … u.a.m.
[5] Siehe „DUDEN 7 -
Herkunftswörterbuch“.
[6] Wer den Sozialpsychiatrischen Dienst
in Metropolen kennt, also auch dessen strukturelle Einschränkung als Behörde
zur Kenntnis nimmt, der weiß, dass die Ärzte und Psychologen dieser Dienststellen
nur oberflächlich Denken und Handeln
können und sollen, da mittels dieser Behördenstruktur jede echte
(therapeutische) Beziehung zum Klienten ungewollt und ausgeschlossen ist.
[7] ICD: International
Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. DSM: Diagnostic
and Statistical Manual of Mental Disorders
[8]
David Cooper, „Der Tod der Familie“, Reinbeck bei Hamburg, 1972, S. 46
[9]
„Zeit-Online“ August 2011
[10] Nach Paragraf 1906 im Bundesgesetzbuch kann ein
betreuter Mensch zwangseingewiesen werden, wenn die Gefahr besteht, dass er
sich selbst tötet oder erheblichen Schaden zufügt. Oder aber weil eine
medizinische Untersuchung notwendig ist, deren Notwendigkeit er aufgrund seiner
psychischen Erkrankung nicht erkennen kann. Welche Untersuchungen dies umfasst,
führt das Gesetz nicht aus.
[11] „Zeit-Online“ August 2011
[12] ebenda
[13] ebenda
[14] Siehe: Klaus Dörner, „Bürger und
Irre“, Frankfurt a. M., 1969
[15] Siehe: Michel Foucault, „Wahnsinn
und Gesellschaft“, Frankfurt a. M., 1969 (Paris 1961)
[16] Laut Dörner, Foucault u. a.
Psychiatriehistorikern geht die eigentliche Geschichte der Psychiatrie, also
der massenhaften Internierung von „Verwirrten und Wahnsinnigen“, einher mit der „Aufklärung“, also mit der
Hervorhebung der „Vernunft“ als
Leitfaden für den bürgerlichen Lebenswandel. Für alles, was der bürgerlichen
Gesellschaft fortan als irrational erschien, wurde „Behandlungsbedarf“
angemeldet.
[17]
Es kann voraus gesetzt
werden, dass wenigstens die populären Schriften von Fromm, Dörner, Schmidtbauer
u. a. diesen professionellen Helfern aus unbeschwerten Tagen ihres
„nonkonformistischen“ Studentenlebens noch hinlänglich bekannt sind.
[18] David Cooper, „Die Sprache der
Verrücktheit“, Berlin 1978, S. 89
[19] Alle folgenden Zahlen stammen aus
den Krankenstandstatistiken der jeweils angegebenen Jahre.
[20] „We
must try“ Interview mit Antoni Negri, in der “taz” vom 9/10 Mai 2009, Seite
23
[21] U.a. ein Ergebnis der zunehmenden
Aufhebung, bzw. Verlagerung der industriellen Produktion aus Deutschland seit
Mitte der 70er Jahre.
[22] Von einer „professionellen Nähe“,
welche eine therapeutische Beziehung bzw. eine pflegerische oder soziale Arbeit
ja keineswegs in Frage stellt, wird in der beruflichen Praxis und während des
Studiums nicht gesprochen. Die Terminologie der Branche ist stets auf Distanz
und Trennung fokussiert. Das hat auch damit zu tun, dass die eigene Nähe zum
Symptom erahnt wird. Die Sachzwänge des „Gesundheitssystems“ zwingen den
KollegInnen allerdings diesen (selbst)verleugnenden Selbstschutz auf, um ihre
Arbeitskraft im Sinne des Systems optimal nutzbar machen zu können. Mit
zweifelhaftem Erfolg, wie man sieht.
[23] Röslers Vorschläge zur
Gesundheitsreform mussten immer wieder scheitern. Seine Partei, die FDP, deren
Klientel eher beim Kleinbürgertum, also bei den niedergelassenen Ärzten und
Apothekern zu finden ist, geriet in Widerspruch zum Koalitionspartner CDU, bei
dem offensichtlich eine starke Lobby der Pharmaindustrie am Wirken ist. Beide
zusammen stießen zudem auf den Widerstand der Opposition, vor allem der SPD,
die sich traditionell dem Staatshaushalt und der „Volkswirtschaft“, also dem
Gesamtkapital, verpflichtet fühlt. Ein ähnliches Dilemma spielt sich derzeit in
den USA ab, wo sich die krisengeschüttelte Privatwirtschaft ein Gefecht nach
dem nächsten liefert gegen den „ideellen Gesamtkapitalismus“, vertreten durch
Obama. Der Kampf um die „Gesundheitsreform“ ist in den meisten
Industrienationen mittlerweile zum Symbol der Rivalitäten der verschiedenen
Kapitalfraktionen geworden, die jeweils darum bemüht sind, ihr Konzept zur
Krisenbewältigung gegenüber dem Rivalen durchzusetzen.
[24]
„…das menschliche Wesen ist kein dem
einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum, in seiner Wirklichkeit ist es
das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Karl Marx: Thesen über
Feuerbach
[25] Ebenda
[26] Vergl. : Michel Focault „Wahnsinn
und Gesellschaft“, Klaus Dörner „Bürger und Irre“ u.a.m.
[27] Raoul Vaneigem in: „An die Lebenden
– Eine Streitschrift gegen die Welt der Ökonomie.
[28] …Das erledigt schon täglich die
Entpolitisierungsmaschine der bürgerlichen Psychotechniker, zu denen
mittlerweile nicht nur die schlechtesten Aussteiger aus den sozialen Bewegungen
der 60er, 70er und 80er Jahre gehören.
http://de.internationalism.org/IKSonline2012_psychischeselend0412