New York.
Mehr Weiße wagten sich von Downtown über den Äquator der 110ten als je zuvor. Der St. Nick’s Pub, meine Lieblings-Jazzkneipe an der 148sten Straße, war am Freitagabend ein multikulturelles Babel. An der Theke des niedrigen Kellergewölbes saßen wie immer ältere schwarze Männer, die mit ihren Nadelstreifenanzügen und Pomadenfrisuren so aussahen, als kämen sie schon seit den 1940er Jahren hierher. Dazwischen drängten sich elegante schwarze und weiße und gemischte Paare, weiße Hipster aus Downtown sowie Jazztouristen, die konzentriert dem Jam der Jazzkombo lauschten.
Die schwarzen Stammgäste begrüßten in diesen Tagen die Weißen beinahe überschwänglich und suchten das Gespräch und es war nichts mehr von der Spannung zu spüren, die sonst in Harlem allgegenwärtig ist, wenn Weiße auftauchen.
Von dieser neuen Offenheit beschwingt, kamen die Weißen bald nicht mehr nur zum Jazz. Ende 2009 behauptete eine Statistik, dass in Harlem erstmals seit den 20er Jahren die Afroamerikaner nicht mehr in der Mehrheit sind. Hauptgrund dafür war das rasante Anwachsen der hispanischen Gebiete im Osten von Harlem. Zentral-Harlem war noch immer solide afroamerikanisch. Aber auch der weiße Zuzug hatte sich dramatisch beschleunigt. Unter den Weißen von Harlem waren 22 Prozent im Lauf des Jahres hier herauf gezogen.
Obama-Frühling
Zu jeder anderen Zeit hätte diese Nachricht in Harlem für einen Aufschrei gesorgt. Und natürlich wurde auch diesmal von Identitätsverlust gesprochen. Aber es war noch immer der Obama-Frühling und so überwogen die freundlicheren Stimmen. Man erinnerte sich an die Harlem-Renaissance, die Blütezeit Harlems in den 30er und 40er Jahren, als Harlem zwar auch schon ein überwiegend schwarzes Wohnviertel war, aber die Jazzclubs und Tanzsäle durchmischt waren und eine gemischt schwarz-weiße Mittelschicht in den besseren Gegenden koexistierte.
Doch im Verlauf des Jahres 2010 macht sich in Harlem zunehmend die Ernüchterung breit. Wie überall in den USA ist man von der Zahnlosigkeit des neuen Präsidenten enttäuscht und von der anhaltenden Wirtschaftskrise frustriert. Es wird deutlich, dass sich auch unter Obama in Amerika für Schwarze nicht das Geringste ändern wird.
Wieder einmal waren die Afroamerikaner in schweren Zeiten die größten Leidtragenden. Während anderswo in New York die Arbeitslosenquote nach dem Börsencrash auf zehn Prozent stieg, war sie in Harlem auf 18 Prozent hinaufgeschossen. Die Schlangen vor den Suppenküchen in den Harlemer Kirchen werden Tag für Tag länger.
Im November 2010 verliert dann die Partei Obamas, die Demokraten, in der Zwischenwahl die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Die Konservativen erleben auf dem Rücken der Tea-Party-Bewegung ein Comeback.
Von Anfang an klein gehalten
„Obama“, sagt mir nur Wochen nach der Wahl am Rande einer Lesung der Harlemer Schriftsteller Quincy Troupe, „hat nie eine Chance gehabt.“ Man habe ihn von Anfang an kastriert und klein gehalten, ihn missachtet wie noch nie zuvor einen Mann in diesem Amt. „Im Grunde hat Obama doch nur die reaktionären Kräfte gestärkt“, sagt Troupe. Die Wahl Obamas sieht immer mehr wie ein historischer Unfall aus – und nicht mehr wie ein historischer Durchbruch.
Je länger Obama im Amt ist, desto häufiger scheinen die rassistischen Zwischenfälle im Land zu sein. Im Jahr 2010 wird die schwarze Bedienstete des Landwirtschaftsministeriums, Shirley Sherrod, nach einer rechten Hetzkampagne wegen angeblichem „umgekehrten Rassismus“ entlassen. Später muss sich Obama persönlich bei ihr entschuldigen. Im September 2011 wird in Georgia der schwarze Troy Davis trotz Petitionen von Amnesty International hingerichtet, obwohl es keine handfesten Beweise gegen ihn gibt. Er hatte angeblich einen weißen Polizisten erschossen. Und im Frühjahr 2012 wird in Florida der unbewaffnete schwarze Jugendliche Trayvon Martin von einem Bürgermilizionär erschossen.
Kurze Zeit später treffe ich an der 109ten Straße in East Harlem Aaron Brown, einen dürren, groß gewachsenen jungen Mann mit kurz geschorenem Kraushaar. Er ist adrett gekleidet, Strickjacke, brandneue Jeans, Prada-Slipper – ein starker Kontrast zur Gangster-Mode, die ansonsten in dieser Gegend von Männern seines Alters bevorzugt wird.
Schwarze Opfer der New Yorker Polizei
Wir stehen vor dem Eingang eines Backsteinhochhauses, einer jener berüchtigten Sozialbausilos von Harlem, um die Touristen und Besucher aus Downtown lieber einen weiten Bogen machen. Hier, im zwölften Stock, ist Aaron aufgewachsen und hier leben noch immer seine Mutter und sein 14 Jahre alter Bruder. Und hier ist er am 9. April 2011 verhaftet worden.
„Ich habe im Eingang gestanden und darauf gewartet, dass mein Bruder runterkommt“, erinnert er sich. „Wir wollten zusammen in meine Wohnung in die Bronx fahren, um den Nachmittag zusammen zu verbringen.“ Fünf Minuten habe er da gestanden, als die Polizisten vorfuhren und zu viert auf ihn zukamen, „wie eine Gang“. Brown wurde herumgeschubst, angeschrien, beleidigt, dreimal bis auf die Unterhose durchsucht und schließlich in Handschellen abgeführt. Bis auf eine Dose Pfefferspray, die Brown zur Sicherheit immer dabei hat, wurde bei ihm jedoch nichts gefunden. Keine Drogen, keine Waffen, kein Diebesgut.
Brown hat einen Collegeabschluss und arbeitet als Computertechniker im Arbeitsministerium. Seine Mutter ist Krankenschwester. Er ist ein ordentlicher junger Mann. Und doch musste er drei Gerichtsvorladungen durchstehen, bis man ihn endlich entlastete. „Ich konnte wochenlang nicht schlafen“, sagt er. „Ich habe gedacht, meine berufliche Zukunft ist vorbei, wenn ich jetzt eine Vorstrafe aufgebrummt bekomme.“
Für Browns Pflichtverteidiger Steve Wasserman, der jetzt auf Entschädigung klagt, ist klar, dass sein Mandant Opfer der mittlerweile berüchtigten „Stop and Frisk“-Strategie der New Yorker Polizei ist, die Bürgermeister Giuliani einst einführte. Doch die Taktik, darüber sind sich Bürgerrechtler und Anwälte wie Wasserman einig, schießt schon lange über das Ziel hinaus. 2011 wurden 685 724 Personen in New York angehalten und durchsucht. Nur in zwei Prozent der Fälle wurden Drogen oder Waffen gefunden. 84 Prozent der Durchsuchten waren Schwarze oder Latinos.
Mythos oder Utopie
Die junge Harlemer Journalistin Sharifa Rhodes Pitts sieht in „Stop and Frisk“ in Harlem gar ein Brachial-Instrument der Gentrifizierung. „Die Polizeipräsenz wächst in direkter Proportion zur Zahl der Luxus-Wohnungen“, sagt sie. In ihrem Buch „Harlem is Nowhere“ beschreibt sie, wie Harlem in Zeiten von Rassentrennung und Diskriminierung für die Schwarzen Amerikas ein gelobtes Land war, ein mythischer Ort, an dem ein urbanes schwarzes Bürgertum in Würde leben und afroamerikanische Kultur gedeihen konnte.
Doch Rhodes Pitts glaubt nicht, dass diese Utopie jemals wirklich existiert habe. In Wirklichkeit war Harlem für sie immer ein überfüllter Slum, der weißen Grundbesitzern gehörte. Und jetzt werde das „Post-Rassismus“-Label dazu genutzt, der Existenz eines eigenständigen schwarzen Stadtbezirks insgesamt die Legitimität abzusprechen. Doch so einfach könne das schwarze Amerika nicht sein Refugium aufgeben, selbst wenn es, wie Ralph Ellison es in seinem Harlem-Schlüsselroman „Invisible Man“ beschreibt, immer nur ein Traum war. „Wir haben für Harlem mit unserem Blut und unserem Schweiß bezahlt“, sagt Rhodes Pitts.
In meiner Straße herrscht unterdessen noch immer dasselbe instabile Gleichgewicht wie vor fünf Jahren. Mein Gebäude ist nach wie vor die einzige Vorhut der Gentrifizierung mit einem Mix aus jüngeren nicht-schwarzen Singles und Pärchen, Afrikanern und alteingesessenen schwarzen Familien. Auf der Straße sitzen alte schwarze Männer auf den Treppenabsätzen und rauchen Zigarren, Kinder spielen auf der Straße Hüpfseil und Basketball. Zum Broadway hin scharen sich Grüppchen von Latinos auf dem Bürgersteig, die aus dem Auto Merengue hören, zur Amsterdam Avenue hin hört man Hip-Hop.
Und welche Rolle spiele ich eigentlich in diesem Mix, der wie ein post-rassistisches Idyll wirkt? Bin ich einer von denen, die, wie Sharifa Rhodes Pitts es ausdrückt, das mit Blut und Schweiß gewonnene Land den Schwarzen abluchst? Oder ist es nicht umgekehrt richtig, die Apartheid zu durchbrechen, die die soziale Ungleichheit zwischen den Rassen zementiert? Hat nicht sonst die post-rassistische Utopie nie eine Chance? Und ist sie am Ende vielleicht gar nicht erstrebenswert?
Die Obama-Ära hat diese Fragen nicht gelöst. Im Gegenteil, sie sind noch viel komplizierter geworden als je zuvor.