Studie räumt mit Mythos vom schlafraubenden modernen Leben auf: Jäger-und-Sammler-Völker schlafen im Schnitt genauso wenig wie wir
Albuquerque/Wien – Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, dass wir heutzutage durchschnittlich viel weniger Schlaf bekommen als unsere Vorfahren: Allenthalben künstliches Licht, ein niemals endendes TV-Programm, Büroarbeit bis spät in die Nacht und natürlich der hohe Kaffeekonsum – all das scheint dazu geeignet, die Bevölkerung der westlichen Industriestaaten zumindest zum Teil um ihren wohlverdienten "natürlichen" Schlaf zu bringen.
Damit geht die Vorstellung einher, dass frühere Generationen mit den sprichwörtlichen Hühnern schlafen gingen und beim ersten Sonnenstrahl aus den Betten sprangen – also gleichsam einem naturgegebenen Rhythmus folgten. Insbesondere unsere prähistorischen Ahnen müssen wegen ihrer aufreibenden, auf das nackte Überleben und das Tageslicht ausgerichteten Lebensweise wesentlich mehr Nachtruhe bekommen haben als unsereins. So zumindest lautete bisher die Annahme, doch allzu viele Daten gibt es nicht, die dies belegen könnten.
Keine Langschläfer
Darum haben sich US-Wissenschafter zu drei traditionell lebenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften aufgemacht, um die bisherigen Auffassungen bezüglich des Nachtschlafs in vorindustrieller Zeit wissenschaftlich zu untermauern. Doch daraus wurde nichts, im Gegenteil: Die Forscher um Gandhi Yetish von der University of New Mexico erlebten eine Überraschung, die das Bild vom urzeitlichen Langschläfer ziemlich über den Haufen wirft.
Um eine Vorstellung von den Schlafgewohnheiten unserer Ahnen zu bekommen, untersuchten Yetish und seine Kollegen die Hadza in Tansania, die San in Namibia und die Tsimané in Bolivien. Die Wissenschafter sammelten dabei Daten von 94 Individuen in einem Zeitraum von insgesamt 1165 Tagen. Das verblüffende, im Fachjournal "Current Biology" präsentierte Ergebnis: Die traditionell lebenden Menschen schliefen durchschnittlich kaum mehr als 6,5 Stunden pro Nacht. Kurze Nickerchen tagsüber kamen praktisch gar nicht vor. Insgesamt ähnelte das Schlafverhalten der Naturvölker also weitgehend unserem eigenen.
"Der kurze Schlaf bei diesen Völkern in Afrika und Südamerika steht im Widerspruch zum weitverbreiteten Glauben, die Schlafzeiten hätten sich in der modernen Welt gegenüber früher dramatisch verkürzt", erklärt Koautor Jerome Siegel von der University of California in Los Angeles.
Uraltes Schlafmuster
"Interessanterweise stellten wir außerdem fest, dass sich das Schlafverhalten bei den Angehörigen aller drei Gruppen trotz ihrer unterschiedlichen genetischen und historischen Grundlagen und der verschiedenartigen Umwelt, in der sie leben, überwiegend gleicht", meint Siegel weiter.
Für die Wissenschafter liegt daher der Schluss nahe, dass es sich hier um ein uraltes Schlafmuster handelt, dem der Mensch bereits in prähistorischen Zeiten gefolgt sein könnte. Den äußeren Rahmen für dieses Schlafverhalten dürfte nicht allein das Tageslicht bilden, vermuten die Wissenschafter. Immerhin legten sich die Angehörigen aller drei untersuchten Völker in der Regel erst weit nach Sonnenuntergang nieder. Sie halten es daher für möglich, dass die Temperatur eine nicht unwichtige Rolle spielt. Denn geschlafen wird hauptsächlich während der kühlsten Stunden des Tages. (Thomas Bergmayr, 15.10.2015)