Überall Gartenhäge
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Little Manuli sitzt in ihrem Zimmer, die Kamera auf sich gerichtet. Sie ist 16 Jahre alt, trägt ein schwarzes Adidas-T-Shirt mit weissen Schulterstreifen und hat allem Anschein nach perfekte Zähne. «Viele haben mich gefragt, wie ich diese Fake-Zahnspange mache», spricht sie gestikulierend in die Kamera und liefert gleich danach mit einem kleinen «Tutorial» die Erklärung: Ein Drahtbogen wird mit einem Gummiband fixiert und anschliessend mit Ohrringverschlüssen versehen, für jeden Zahn einen. Und schon ist die Fake-Spange fertig.
«Ich finde, dass es ziemlich echt aussieht, dafür, dass es gar keine Zahnspange ist», sagt Little Manuli stolz. Ihr Youtube-Film, den sie im vergangenen Juni gepostet hat, wurde über 300'000 Mal angeklickt. Er illustriert den markanten Imagewechsel, der bei der Zahnspange seit einigen Jahren stattgefunden hat. Vor nicht allzu langer Zeit machte der Gartenhag im Mund ein Kind noch zum Aussenseiter mit einem Selbstbewusstsein, das gegen null tendierte. Heute hingegen geraten manche Jugendliche sogar in eine Krise, wenn ihnen der Zahnarzt eröffnet, dass sie perfekte Zähne haben und deshalb keine Spange benötigen.
Der Grund für diesen Wechsel liegt auf der Hand: Das Drahtgestell ist zum Normalfall geworden. Laut der letzten Gesundheitsbefragung des Bundes gaben im Jahr 2012 53,6 Prozent der 15 bis 24-Jährigen an, schon eine Zahnspange getragen zu haben. Bei den höheren Altersgruppen nimmt der Anteil kontinuierlich ab. Von den 45- bis 54-Jährigen waren noch 24,1 Prozent schon einmal Spangenträger.
Investition ins Selbstwertgefühl
Genaue Zahlen dazu, wie viele von diesen Spangen tatsächlich notwendig waren, gibt es keine. Marc Schätzle, Privatdozent an der Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin der Universität Zürich, geht jedoch davon aus, dass die Behandlung bei rund der Hälfte der eingesetzten Spangen «sinnvoll» und «wirklich zu empfehlen» sei.
«Bei den Restlichen wäre eine Spange nicht zwingend nötig.» Trotzdem möchte Marc Schätzle nicht von Überbehandlung oder verschwendetem Geld sprechen: In der Zahnmedizin werde vieles nicht aus medizinischer Notwendigkeit, sondern aus ästhetischen Gründen gemacht. «Auch bei einem herausgeschlagenen Zahn gibt es aus medizinischer Sicht keinen zwingenden Anlass, ihn zu ersetzen», sagt der Kieferorthopäde. «Die Korrektur der Zahnstellung ist letztlich eine Investition in das Selbstwertgefühl.»
Otmar Kronenberg, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kieferorthopädie (SGK), ist überrascht vom hohen Anteil an Spangenträgern: «Die Ansprüche haben sich im Vergleich zu früher wahnsinnig gewandelt, heute soll alles perfekt aussehen», sagt der Zahnarzt mit eigener Praxis in Luzern. Ein Perfektionismus, der ins Geld gehen kann. Abnehmbare Spangen, die vor allem bei Kindern ab acht Jahren mit Kieferfehlstellungen zum Einsatz kommen, kosten laut Kronenberg bis zu 5000 Franken. Beim klassischen, fest installierten Gartenhag, der in der Regel ab 12 Jahren eingesetzt wird, können die Kosten in Ausnahmefällen bis zu 15'000 Franken reichen. Im Gegensatz zu früher können sich die meisten solche Behandlungen heute leisten. «Viele haben eine entsprechende Zusatzversicherung, die ein Grossteil der Kosten übernimmt», sagt Otmar Kronenberg.
Hubertus van Weas muss immer wieder Kindern und ihren Eltern die Zahnspange ausreden. «Nicht selten ist eine Spange Blödsinn, kostet viel Geld und Zeit», sagt der Leiter des schulzahnärztlichen Dienstes der Stadt Zürich. Das Grundproblem: Für Laien ist es schwer einzuschätzen, wann eine entsprechende Behandlung sinnvoll ist. Sie sind auf die korrekte Beurteilung durch einen Zahnarzt angewiesen. Dass dabei bewusst oder unbewusst auch ökonomische Faktoren eine Rolle spielen, stellte 2008 ein Bericht zu Zahnspangen im Auftrag des Deutschen Bundesministeriums für Gesundheit fest: «Die wirtschaftliche Komponente der kieferorthopädischen Behandlungen scheinen wesentlich auf die getroffenen klinischen Entscheidungen Einfluss zu haben», schreiben die Autoren insbesondere aufgrund einer internationalen Untersuchung.
Auch die von Bernerzeitung.ch/Newsnet befragten Zahnärzte bestätigen, dass manch ein Behandler nicht nur aus medizinischen oder ästhetischen Überlegungen zu einer Spange rät. «Natürlich spielen für die Praxen wirtschaftliche Überlegungen auch eine Rolle», sagt zum Beispiel Andreas Jäger, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO). «In der Medizin führt mehr Angebot immer zu mehr Nachfrage, das zeigen zahllose Untersuchungen.»
Frauen lassen Zähne verunstalten
«Es gibt schwarze Schafe», sagt auch Marc Schätzle. Er rät Patienten eine Zweitmeinung einzuholen, wenn sie unsicher sind. «Zahnärzte sind das Opfer ihres eigenen Erfolgs. Karies ist stark zurückgegangen, und manch ein Allgemeinzahnarzt hat sich die Kieferorthopädie als zusätzliches Standbein aufgebaut», sagt Marc Schätzle. Das müsse aber nicht in jedem Fall schlecht sein. «Man ist jedoch meistens auf der sicheren Seite, wenn man sich die Spange von einem Fachzahnarzt für Kieferorthopädie einsetzen lässt.»
Offen ist, wie lange der Zahnspangen-Boom noch anhalten wird. Jäger will das für Deutschland beobachtet haben, dass sich die Ansprüche an perfekte Zähne bereits verändert haben: «Vor zehn Jahren hatte man noch das Gefühl, dass jede Zahnfehlstellung eine gesundheitliche Beeinträchtigung darstelle», sagt er. Heute sehe man dies zurückhaltender. Japan erlebt seit einigen Jahren sogar einen Gegentrend.
So berichtete die «New York Times», dass dort Frauen den Zahnarzt dafür bezahlen, dass er ihnen die geraden Zähne gezielt verunstaltet. Japanische Männer fänden Frauen mit einem etwas schiefen Gebiss zugänglicher als solche mit überperfekten Zähnen. Wer weiss, vielleicht wird Little Manuli zu dem Thema schon bald ein weiteres Video auf Youtube stellen. (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 06.02.2015, 23:29 Uhr
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