„Amoklufer handeln nicht vllig unvermittelt, sondern folgen einer inneren Logik, so sehr sie auch unserer eigenen Wahrnehmung widersprechen mag,“ sagt Jens Hoffmann. Der Kriminalpsychologe beschftigt sich seit Jahren mit schweren Straftaten so auch mit dem Amoklauf des 17 Jahre alten Tim K., der am 11. Mrz 2009 in der Albertville-Realschule Winnenden 15 Menschen gettet und weitere elf Menschen verletzt hatte. Die Tat sei, da ist sich Hoffmann sicher, nicht aus unerklrlichen Beweggrnden geschehen, sondern vielmehr die Folge einer Entwicklung.
Der 43 Jahre alte Kriminalpsychologe leitet das Darmstdter Institut fr Psychologie und Bedrohungsmanagement (IPBM), das Fortbildungen und Konferenzen zu forensischen Themen ausrichtet. Unter Hoffmanns Fhrung entwickelt das IPBM eine webbasierte Software. Sie soll helfen, das Verhalten von auffllig gewordenen Schlern einzuschtzen: Das Dynamische Risiko Analyse System (Dyrias) basiert auf Daten, die von mehr als 250 ausgewerteten Fllen weltweit stammen. Die Version „Dyrias Schule“ soll Lehrer, Schulpsychologen, Polizisten und Schulsozialarbeiter untersttzen.
Fr Lehrer, die die Software anwenden, heit das: Sie legen im System einen neuen Fall an und klicken sich durch einen Katalog von 32 Fragen, die sie so detailliert wie mglich beantworten sollen. Beispielsweise wird abgefragt, ob der Jugendliche sich fr Militrthemen interessiert.
Die einzelnen Punkte werden mit Hilfe von Quellenangaben und Fallbeispielen ergnzt. Durch den direkten Zugang zum Internet bleibt die Software auf dem aktuellen Stand der Forschung.
Psychologische Fachkenntnisse sind keine Voraussetzung fr die Nutzung der Software. Hoffmann rt allerdings zu einer zweitgige Schulung allein um die Auswertung richtig zu interpretieren. Mindestens 55 Prozent der von der Software geforderten Informationen sollten eingegeben werden, um eine Verhaltensmessung vornehmen zu knnen.
Das Ergebnis wird nicht in Form eines prozentualen Wertes angezeigt, sondern ist stufenweise angelegt: In der ersten Stufe ist laut „Dyrias“ noch von keiner Bedrohung durch die auffllige Person auszugehen, sie kommt nicht ber Gewaltfantasien hinaus. Mit steigender Stufenzahl wchst die Entschlossenheit und somit die Wahrscheinlichkeit der Person, Amok laufen zu wollen. In naher Zukunft wird die Datenbank mit einer weiteren Studie gefttert, bei der das Verhalten aufflliger Schlern, sogenannten Drohern, untersucht wurde. Es sind Probanden, die zwar Gewalt angekndigt haben, aber letztlich nicht zur Tat geschritten sind.
Hoffmann wehrt sich gegen den Verdacht, dass „Dyrias“ dazu diene, ein Persnlichkeitsprofil zu erstellen: „Das Programm ist ein Instrument, um die wissenschaftlich fundierte Risikoeinschtzung einer Person vorzunehmen, aber nicht, um mgliche Tter vorherzusagen.“
Seit 2009 ist das System auf dem Markt und findet, so der Institutsleiter, im deutschsprachigen Raum Zuspruch. In Hessen habe allerdings nur die Martin-Niemller-Schule in Riedstadt sie in ihre Prventionsarbeit integriert. Gerade die an den Schulen angesetzten Krisenteams knnten von „Dyrias “ profitieren: „Unmittelbar nach Winnenden hat das Land Hessen Schulen verpflichtet, ein Krisenteam zusammenzustellen, das der Schulleitung bei der Bewltigung von Bedrohungs- und Krisensituationen helfen soll. Nach anfnglicher Unsicherheit reagieren die Schulen mittlerweile deutlich entspannter, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und mit Schlern ins Gesprch zu kommen.“
Als „fahrlssig“ bezeichnet er Schulen, die kein geregeltes Krisenmanagement betreiben. Ein strukturierter und lsungsorientierter Ansatz sei wichtig, um berreaktionen vorzubeugen vor allem gegenber Schlern. Denn die sinnvollste Prvention sei der offene Kontakt zu Schlern. Gelinge es, eine Kultur des Hinschauens zu etablieren, sei der wichtigste Schritt getan.