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Von wem ist der denn? Ein Mann hat einen Kussmund am Hemdkragen. (picture alliance / dpa - Oliver Berg)
Wer vom Partner betrogen wird, kann ein massives Trauma erleiden, berichtet die US-Paartherapeutin Shirley P. Glass in ihrer "Psychologie der Untreue". Doch statt differenzierter Aufklärung bietet sie den Lesern ein konservatives moralisches Korsett.
Ralph und Rachel heirateten voller Hoffnung auf ewige Treue. Dann kamen die Kinder und stressige Jobs, bis Ralph eine innige Freundschaft und bald eine Affäre mit einer Arbeitskollegin einging. In ihrem Buch "Die Psychologie der Untreue" schleust die US-amerikanische Paartherapeutin Shirley P. Glass das fiktive Paar durch typische Stationen eines Beziehungslebens und ist überzeugt: Auch glückliche Verbindungen sind vor Dreieckssituationen nicht gefeit, wenn die Liebespartner ihre Zweisamkeit nicht aktiv gegen Versuchungen imprägnieren.
Auf über 400 Seiten erklärt die Therapeutin ambitioniert, wie es zu einem allmählichen Abgleiten in eine Fremdbeziehung kommen kann, was sich in der Psyche des oder der Betrogenen ereignet und wie sich Innenleben und vielleicht auch die Beziehung nach dem Vertrauensbruch wieder heilen lassen. All das reich angefüllt mit den Ergebnissen psychologischer Studien und Geschichten aus dem echten Leben.
Ausdrücklich spricht sich die Autorin gegen aktuelle paartherapeutische Konzepte aus, wonach beide Partner innerhalb einer Beziehungsdynamik verantwortlich sind, wenn das Versprechen der Monogamie zerbricht. Die psychologische Forschung zeige, dass Betrogene ein massives Trauma erleiden können, von dem sie sich nur unter größten Mühen und mit psychologischer Unterstützung erholen. Darum könne eine Beziehung nur heilen, wenn der Fremdgeher seine Eskapaden schrankenlos offenlegt, Reue übt und sich ernsthaft neu auf die Monogamie verpflichtet. Es gelte, gezielt Mauern zu ziehen, wenn Freundschaften zu vertraulich werden, und Fenster der exklusiven Vertrautheit mit dem Liebespartner zu öffnen.
Beschränkter Horizont der Autorin
Zugegeben, Übersetzerin Susanne Nagel weist schon im Vorwort des Buches darauf hin, dass sich Shirley P. Glass aus einer konservativen amerikanischen Perspektive zu Wort meldet. Man solle sich aus ihrem umfangreichen Buch einfach herauspicken, was hilfreich sei. Dennoch macht sich der enge Horizont der Autorin mit fortschreitender Lektüre unschön bemerkbar. Während Menschen, die sich um ihre Sehnsucht nach Gewissheit und Stabilität betrogen sehen, sogar Verständnis erhalten, wenn sie das Handy ihres Liebespartners ausspähen oder gar einen Detektiv engagieren, hält das Buch für die "Betrüger" vor allem Forderungen bereit.
Dabei üben auch Wahrheit und Erkenntnis langfristig eine heilende und befreiende Wirkung aus, weiß die Psychologie – selbst wenn sie schmerzen. Zur Wahrheit gehört: Ideal und Wirklichkeit des Liebeslebens passen in unserer Kultur so wenig zusammen, dass Kollateralschäden schon beinahe der Normalzustand sind, wie Trennungsstatistiken zeigen. Dafür gibt es viele Gründe, auf die der Einzelne teilweise nicht einmal Einfluss hat – das Buch lässt sie alle unbeleuchtet. Zwar nimmt Shirley P. Glass die komplizierten gegenwärtigen Beziehungsrealitäten differenziert in den Blick. Doch anstatt ihren Leserinnen und Lesern mit ebenso differenzierter Aufklärung zur Seite zu stehen, bietet sie an, was selten hilft: den Rückgriff auf ein konservatives moralisches Korsett.
Shirley P. Glass: Die Psychologie der Untreue
Einleitung und Übersetzung von Susanne Nagel
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015
448 Seiten, 24,95 Euro