Sabotage des Schicksals

4. Februar 2012

Vor hundert Jahren wurde der Philosoph und Zeitkritiker Ulrich Sonnemann geboren

Uwe Justus Wenzel ⋅ In keine Schablone passe er, dieser «ungewöhnliche deutsche Patriot», bemerkte der «Spiegel» in seiner sechzehnten Nummer des Jahres 1963 mit Blick auf den Autor des druckfrischen Buches «Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten». Ulrich Sonnemann, der Gemeinte, hat seine Vaterlandsliebe, wenn es denn tatsächlich eine war, im Modus ebenso vehementer wie subtiler Kritik am Objekt seiner mutmasslichen Zuneigung zum Ausdruck gebracht. Er liess, ohne Umschweife gesagt, so gut wie kein gutes Haar an Deutschland und den Deutschen.

«Deutsche Reflexionen»

Der jüdische Remigrant, der Sonnemann – 1955 aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zurückgekehrt – war, nahm sich die Freiheit, den eklatanten Mangel an Freiheit und «humaner Spontaneität» unter den Deutschen zu rügen und zu rüffeln. Der vorauseilende Gehorsam, die Arbeitswut und die Selbstknechtung, die selbstgerechte Gedächtnislosigkeit und die fatalen Kontinuitäten, die stumpfe Sturheit und auch die «Vertrostlosung der Landschaft»: All das und noch vieles mehr stellte er, West- wie Ostdeutschland, Rechte wie Linke ins Visier nehmend, an den Pranger. Der Rezensent des «Spiegels» nahm Züge «absurder Verbissenheit» wahr. Verbissen freilich wirkt weniges in diesen mit der Säure der Ironie, gelegentlich auch mit der des Sarkasmus angereicherten «deutschen Reflexionen»; und auch der, der sie zu Papier brachte, war es wohl kaum – verbissen. Eher schon träfe «unverdrossen» auf ihn zu. Unverdrossen liess Sonnemann jedenfalls weitere Reflexionen der nämlichen Art folgen. Allesamt verschrieben sie sich, direkt oder indirekt, der «Einübung des Ungehorsams in Deutschland» (so der Titel einer Publikation von 1964). Sonnemann selbst ging mit gutem querulatorischem Beispiel voran; er leuchtete den studentischen Revoluzzern, mit denen er zwar sympathisierte, ebenso heim wie dreisten Politikern und tumben Kulturbürokraten; er half gar – nicht ohne detektivischen Ehrgeiz –, einen Justizskandal aufzudecken.

Für solches Engagement stellte der Eigensinnige sich selbst einen philosophisch-psychologischen Freibrief aus: 1969 erschien Sonnemanns «Negative Anthropologie». Die «Vorstudien zur Sabotage des Schicksals» verteidigen die Spontaneität des Individuums und die Offenheit der Geschichte, namentlich gegen die marxistische «Kanalisierung der Zukunft» und die freudianische «Beschränkung des Bewusstseins auf die Kontrollfunktion eines grämlichen Ich». Dem Lob unreglementierter Selbstbestimmung entspricht die Zurückweisung aller positiven – Menschenbilder verfertigenden – Anthropologie. Das Humane, so Sonnemanns Credo, sei allein aus seiner «Verleugnung und Abwesenheit» erschliessbar. Die Verwandtschaft dieses Motivs mit demjenigen der «Negativen Dialektik» Adornos, die drei Jahre früher veröffentlicht wurde, liegt auf der Hand. Der kritischen Theorie fühlte Sonnemann sich zugehörig. In deren intellektuellen Umkreis war er allerdings auf ganz eigenem, kurvenreichem Weg ge langt.

Geboren in der deutschen Hauptstadt am 3. Februar 1912 als Sohn einer Malerin und des Leiters der Berliner Dépendance der «Frankfurter Zeitung», studierte Ulrich Sonnemann ab 1930 Philosophie, Sozialwissenschaften, Psychologie und auch Literatur in Berlin, Freiburg i. Br. und Frankfurt am Main. Die Machtübergabe an Hitler zwang ihn 1933 in die Emigration. Die Stationen waren: Wien; Paris; Basel, wo er 1934 mit einer schmalen Studie über den «sozialen Gedanken im Werk von H. G. Wells» bei Edgar Salin und Hermann Schmalenbach doktorierte; Zürich, wo er sein Psychologiestudium vervollständigte und als Feuilletonist für verschiedene Schweizer Zeitungen, auch für die NZZ, tätig war; Brüssel, von wo er 1940, als Nazideutschland die «Westoffensive» begann, nach Frankreich deportiert wurde.

1941 gelang die Flucht aus dem Internierungslager Gurs in die USA. Dortselbst war Sonnemann zunächst als Dozent für deutsche Sprache und Literatur tätig; bald indes, 1942, wurde er zur Armee einberufen, die ihn als klinischen Psychologen beschäftigte. In diesem Metier arbeitete er, an Krankenhäusern wie auch in einer Privatpraxis, nach dem Krieg weiter, unterbrochen von einer Episode als Associate Professor für Psychologie an der New School for Social Research in New York.

Die «endgültige Bestimmung meines Verhältnisses zu meinem Geburtsland den Nazis anheimzustellen», kam für Sonnemann, wie er in einer autobiografischen Skizze notierte, nie infrage. So kehrte er 1955 nach Deutschland zurück, lebte als freier Autor zunächst hauptsächlich in München, wo er ab 1969 eine Dozentur für Sozialpsychologie und Politikwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film versah. 1974 – im Alter von zweiundsechzig – wurde er auf eine Professur für Sozialphilosophie an die Gesamthochschule Kassel berufen. 1993 starb er in seinem Haus in einem kleinen nordhessischen Dorf; sein letztes Projekt, eine «transzendentale Akustik», blieb unvollendet.

Der lange Satz

Die im Verlag zu Klampen erscheinende, auf zehn Bände angelegte Edition der Schriften Sonnemanns – unter ihnen auch ein Roman – hat bisher neben der «Negativen Anthropologie», dem philosophischen Opus magnum, und thematisch verwandten Studien die im amerikanischen Exil verfassten Werke zugänglich gemacht: «Handwriting Analysis as a Psychodiagnostic Tool» (1950), eine an Klages orientierte Grundlegung der Graphologie, sowie «Existence and Therapy», eine Einführung in die phänomenologische Psychologie und Existenzanalyse. Auch im Englischen pflegte Ulrich Sonnemann die Periode – den langen, kunstvoll und rhythmisch gefügten Satz, dem er bereits am 6. August 1937 in der NZZ eine verschlungene und doch konzise Verteidigung widmete. Nicht alle Nachahmer, die dieser Stil gefunden hat, beherrschen ihn auch, wie das eine oder andere Geleitwort zu den Bänden erkennen lässt.

Ulrich Sonnemann: Schriften in zehn Bänden. Herausgegeben von Paul Fiebig. Verlag zu Klampen, Springe 2005 ff.



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