Sie sind der Meinung, dass Vegetarier gar nicht so gesund leben, wie sie glauben mögen. Wie kommen Sie zu dieser Aussage?
Der menschliche Körper ist das Produkt eines jahrmillionenlangen Evolutionsprozesses. Seit der Mensch aufrecht geht, also seit ungefähr drei Millionen Jahren, ist er ein Jäger und Sammler. Sein Körper, und damit auch sein Verdauungstrakt, sind für diese Lebensweise eingerichtet. Jäger sein heisst Fleischfresser sein, Sammler sein heisst Vegetarier sein. Wir sind beides.
Das heisst also, dass wir uns sowohl vegetarisch als auch tierisch ernähren sollten?
Genau. Der menschliche Verdauungstrakt ist für einen Allesfresser eingerichtet. Die Darmlänge vegetarischer Tiere, etwa Rinder und Schafe, beträgt rund das 20-Fache ihrer Körperlänge, das reiner Fleischfresser, etwa von Hunden und Löwen, etwa das 3-fache. Das pflanzliche Material abzubauen ist viel aufwendiger, seine Verdauung braucht mehr Zeit und die Hilfe von Milliarden Darmbakterien; deshalb ist der Darm von vegetarisch lebenden Tieren viel länger.
Kann man von der Länge des menschlichen Darms auf eine sinnvolle menschliche Ernährung schliessen?
Die menschliche Darmlänge beträgt etwa das 6-fache der Körperlänge. Dies ist tatsächlich ein deutlicher Hinweis auf die Allesfresser-Eigenschaften des menschlichen Verdauungstraktes. Die Ernährungsweise unserer nächsten Verwandten gibt übrigens kaum einen Hinweis auf die «richtige oder ursprüngliche» Ernährungsweise. Gorillas sind Vollvegetarier, Schimpansen hingegen sind sogar Kannibalen. Wir sind näher mit den Schimpansen verwandt, und unser Gebiss ist nicht wie jenes der Gorillas auf das Zermahlen von Pflanzen spezialisiert. Wir Menschen sind aufgrund unserer Geschichte steppenlebende Jäger und Sammler. Vegetarier hingegen ernähren sich nicht vielseitig gemäss der Physiologie unseres Darmes, sie leben als Sammler.
Alle Ernährungsberater wollen uns doch weismachen, dass Früchte und Gemüse die gesündeste Form von Ernährung sei.
Diese Orthodiät – also das, was so gemeinläufig als richtige Diät empfohlen wird – richtet sich eher nach ideologischen, moralischen, tierschützerischen und ökologischen Gründen als nach ernährungsphysiologischen. Der menschliche Körper ist allerdings in Bezug auf die Nahrung extrem anpassungsfähig. Rein vegetarische Ernährung ist durchaus möglich, ebenso wie übrigens rein tierische, wie uns das Beispiel der Inuit zeigt, die seit Jahrtausenden reine Jäger sind und weder Gemüse noch Früchte essen – und trotzdem gesund sind.
Das heisst, man kann essen, was man will, alles ist möglich?
Das Spektrum ist tatsächlich sehr gross. Sie können sowohl aus Kartoffeln als auch aus Salami Fingernägel herstellen. Bei jeder Art von stark einseitiger Ernährung können sich aber Probleme ergeben, weil dann allenfalls von einer Komponente zu viel oder zu wenig eingenommen wird.
Können Sie ein Beispiel geben?
Die Inuit müssen sich einschränken beim Konsum von Leber, da sie sonst zu viel Vitamin A zu sich nehmen. Eine solche Hypervitaminose führt zu massiven Stoffwechselstörungen. Das wissen die Inuit aus jahrhundertelanger Erfahrung und verhalten sich entsprechend: die Leber von Eisbären wird von ihnen nicht gegessen. Wer sich vegan ernährt, also weder Fleisch noch Eier noch Milchprodukte zu sich nimmt, bekommt ein Mangelproblem: Vitamin B12, Calcium und andere Hilfsstoffe sind in unzureichender Menge verfügbar, was zu gesundheitlichen Problemen führen kann.
Welches ist denn nun die richtige Ernährung?
Wie erwähnt, sind nur extrem einseitige Ernährungsweisen ein Problem. Jeder soll sich so ernähren, dass er sich am wohlsten fühlt. Der Körper meldet Bedürfnisse an und gibt Feedbacks, zum Beispiel Lust auf Salziges oder Süsses, Völlegefühl, saures Aufstossen usw. Wer gut auf seinen Körper hört, macht schon einmal vieles richtig. Sobald die Ernährung durch ideologische Leitlinien geprägt wird, sollte man sich einige kritische Fragen gefallen lassen.
Ruedi Leutert (69) lebt in Meilen und ist Biologe und ehemaliger Gymnasiallehrer. (Tagesanzeiger.ch/Newsnet)
(Erstellt: 31.12.2014, 22:01 Uhr)