Wien. Die Psychologie kennt das Phänomen als Prokrastination: Man schiebt notwendige, aber unangenehme Aufgaben bis zur letzten Minute auf. Bei Kindern sind das beispielsweise Hausübungen, bei der Regierung waren es die Verhandlungen über Grunderwerbsteuer und Registrierkasse. Erst eineinhalb Stunden vor dem Ministerrat am Dienstag einigten sich SPÖ und ÖVP bei beiden Punkten auf die Details, die Steuerreform konnte somit mit Ach und Krach den Ministerrat passieren.
Familien kommt die späte Einigung teuer, weil sich die SPÖ bei der Erbschaftssteuer auf Immobilien durchgesetzt hat: Besitzen beide Ehepartner ein Haus oder eine Wohnung und vererben das ihrem Kind, gilt das künftig als ein Erbschaftsfall, nicht als zwei unterschiedliche Erbschaften. Damit muss der Erbe höhere Grunderwerbsteuern bezahlen, der Unterschied kann mehr als 200 Prozent ausmachen.
Im Gegenzug hat die ÖVP Erleichterungen für Unternehmen bei Betriebsübergaben gesichert. Grob erklärt gibt es zwei Möglichkeiten bei Betriebsübergaben: eine generelle Steuer in Höhe von maximal 0,5 Prozent des Gesamtwertes der Immobilie. Oder einen Freibetrag in Höhe von 900.000 Euro plus dem Stufentarif der Grunderwerbsteuer (0,5 Prozent bis 250.000 Euro, zwei Prozent für die nächsten 150.000 Euro und 3,5 Prozent für alle Werte über 400.000 Euro).
Die Änderungen, die sich SPÖ und ÖVP gegenseitig abgerungen haben – teilweise im Zuge des Begutachtungsverfahrens, teilweise bei den Gesprächen in der Nacht auf Dienstag –, machen die Steuerreform, die mit 5,2 Milliarden Euro berechnet war, noch einmal teurer. Konkret um etwa 300 Millionen Euro, wie Finanzexperten der „Presse“ erklärten. Das Finanzministerium dementiert freilich diese Summe, spricht aber von Mehrkosten.
Die Kosten kommen unter anderem von einer automatischen Arbeitnehmerveranlagung, auf die man sich in nächtlichen Verhandlungen geeinigt hat. Ab 2017 (rückwirkend für das Steuerjahr 2016) müssen Geringverdiener oder Personen, die nur Spenden von der Steuer absetzen, keinen Steuerausgleich mehr machen. Bisher blieben dem Staat mehr als 200 Millionen Euro, weil viele Menschen keine Arbeitnehmerveranlagung bei der Finanz einreichten.
Zweiter teurer Punkt, der bis zu 100 Millionen Euro kosten soll: die frühere Umsetzung der Negativsteuer (teils bereits für 2015) und die Ausweitung der Fälle, die in den Genuss der Negativsteuer kommen. Für Arbeitnehmer, die keine Einkommensteuer zahlen, werden künftig Sozialversicherungsbeiträge bis zu 400 Euro rückerstattet, für Pensionisten, die keine Einkommensteuer zahlen, bis zu 110 Euro.
Keine Änderung bei Registrierkasse
Die zuletzt heftig diskutierte Abschaffung des Bankgeheimnisses, die der Finanz Einblick in Konten garantiert, bleibt unverändert. Es soll einen Rechtsschutzbeauftragten geben und das Vieraugenprinzip gelten. Dass man im Regierungsentwurf nicht weiter gegangen ist, hat damit zu tun, dass die Grünen eine richterliche Kontrolle fordern. Und ihnen wird man im Parlament Zugeständnisse machen müssen, weil man ihre Stimmen für Verfassungsgesetze benötigt.
Bei den Registrierkassen hat sich die ÖVP mit vielen Änderungswünschen die Zähne an der SPÖ ausgebissen. Es gibt zwar geringere Strafen und Erleichterungen für Vereine, die Hauptpunkte aber bleiben: ab 15.000 Euro Umsatz muss man künftig eine Registrierkasse haben, ausgenommen „Kalte-Hände-Unternehmen“ (u. a. Maronibrater), für die eine Grenze von 30.000 Euro gilt.
Der wichtigste Punkt der Steuerreform ist die Neuordnung der Lohnsteuertarife. Der Eingangssteuersatz wird von derzeit 36,5 Prozent auf 25 Prozent gesenkt. Statt drei gibt es sechs Lohnsteuerstufen. Das soll einem durchschnittlichen Arbeitnehmer (2100 Euro brutto pro Monat) ein jährliches Plus von 900 Euro bescheren.
Für Familien wird der Kinderfreibetrag von 220 auf 440 Euro angehoben. Für die Wirtschaft gibt es ein Paket, das im ersten Jahr 100, ab dem zweiten dann 200 Mio. Euro schwer ist. Dabei geht es unter anderem um die Ausweitung der steuerlichen Begünstigung der Mitarbeiterbeteiligung.
Auf der anderen Seite werden die Steuern auf Kapitalerträge (außer Sparbücher) von 25 auf 27,5 Prozent erhöht. Für ein Jahresverdienst von mehr als einer Million Euro fallen künftig 55 Prozent Steuern an (die Maßnahme ist auf fünf Jahre begrenzt).
Die Regierung war zufrieden. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) meinten, die Steuerreform sei ein Beweis für die „gute und intensive“ Zusammenarbeit. Faymann freute sich, dass trotz der Kritik niemand „umgefallen, halb hingefallen oder entgegengefallen“ sei. Weniger zufrieden war nicht nur die Opposition – die FPÖ sprach etwa von einer „Mogelpackung“, die positiven Effekte würden bald verpuffen –, auch Vertreter der Wirtschaft und der Industrie wollen „weitere positive Signale“ für den Standort. Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) hat die Reaktionen schon vor dem Ministerrat fast philosophisch kommentiert: „Bei einer Steuerreform gibt es Zufriedene und Unzufriedene, aber nie Dankbarkeit.“
Weitere Infos: www.diepresse.com/steuerreform
Der Ministerrat hat am Dienstag die Gesetzesvorlagen zur Steuerreform verabschiedet. Im Vergleich mit dem Begutachtungsentwurf gibt es einige wesentliche Änderungen: Die Steuergutschriften werden bereits für 2015 ausbezahlt, ein Familiensplitting bei der Grunderwerbsteuer ist nicht mehr möglich und macht das Erben einer Immobilie deutlich teurer, es gibt künftig einen automatischen Steuerausgleich. Die Reform soll Anfang Juli vom Nationalrat beschlossen werden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2015)