Von Reinhard Breidenbach
PROZESSVERLAUF Im Kinderheim war S. der Herrscher, im Gerichtssaal wäre er es am liebsten auch
Jeder Strafprozess hat strenge, fast bürokratische Strukturen. Bisweilen dämpft das die Schmerzen. Es hat Tränen gegeben im großen Saal 1 des Kaiserslauterer Landgerichts, in dem sich Stefan S. (44), ehemals Leiter des Kinderheims „Spatzennest“ im pfälzischen Ramsen, seit dem 4. Mai wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Schutzbefohlenen zu verantworten hatte.
Der 17. Verhandlungstag, Dienstag, der 18. Oktober, ist ein sehr entscheidender. Die psychologische Gutachterin Dr. Petra Retz-Junginger (Homburg) trägt vor, dass die Vorwürfe der heute 16 bis 23 Jahre alten Opferzeuginnen mit hoher Wahrscheinlichkeit der Wahrheit entsprechen. Sie schildert sachlich und ausführlich. Sie geht ins Detail. Das muss sie tun. Die Glaubwürdigkeit der Opfer steht auf dem Spiel, und für S. geht es um alles. Es ist still im Saal, die Atmosphäre atmet Erschöpfung.
„Die Mädchen sind aufs Schwerste traumatisiert“
Gegenüber der Anklagebank sitzen, als Nebenklägerinnen, zwei der jungen Frauen. Die Befragung der Opferzeuginnen vollzog sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit, teilweise per Videovernehmung: das Mädchen in einem anderen Raum, um nicht mit S. konfrontiert zu sein. „Die Mädchen sind aufs Schwerste traumatisiert“, sagt in seinem Plädoyer Nebenklage-Anwalt Frank Peter (Worms). Eine Ärztin hatte im Zeugenstand geschildert, wie sie eines der Mädchen, eine Studentin, am Tag nach einer Verhandlung auf der Straße traf und fragte, wie es denn gehe. Die junge Frau sei weinend zusammengebrochen.
Neun Jahre Haft und lebenslanges Berufsverbot hatte Staatsanwältin Daniela Herzog verlangt. Sie nennt S.‘s Verhalten „perfide“. Verteidiger Hans Dieter Bäcker (Kaiserslautern), im besten Wortsinn einer aus der alten Schule, den Regeln des Strafprozesses folgend notfalls wohl treu bis in den Tod, fordert das Gericht auf, wegen Zweifeln, die er an der Glaubwürdigkeit der Mädchen zu haben erklärt, freizusprechen.
Ein Angeklagter hat, vor dem Urteil, stets das letzte Wort. Das letzte Wort des Stefan S. geht über zwölf Stunden. Er sagte Sätze wie: „Das ‚Spatzennest‘ war ein Paradies für Kinder.“ Und: „Niemals habe ich ein Kind missbraucht.“ Einen „Super-GAU von Falschbeschuldigungen“ habe es gegen ihn gegeben. Eine „Hexenjagd“. S. nennt es „das Wormser Komplott“.
Der Name „Worms“ kennzeichnet eine zweite tragische Ebene des Verfahrens. Drei der sechs Opferzeuginnen kamen 1993 in die Obhut des S. ins „Spatzennest“, weil ihre Eltern im Zuge der sogenannten Worms-Prozesse wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt wurden. Obwohl die Eltern 1996/97 freigesprochen wurden, blieben die Kinder, so entschieden Jugendamt und Familiengericht Worms, bei S. Argument: Die Kinder wollten partout nicht zu den Eltern. Der Bielefelder Psychologie-Professor Uwe Jopt war 2001 im Auftrag des Familiengerichts im „Spatzennest“. Als Zeuge sagte er jetzt aus, Anzeichen von sexuellem Missbrauch habe er nicht gefunden, doch habe S. die Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen, sie total von den Eltern entfremdet, um sie an sich zu binden. Keine Chance auf Eltern-Kind-Kontakt. Er, Jopt, habe sich hilflos gefühlt angesichts dieser Situation, habe geweint, sagt der Professor, der überspannt wirkt, aber nicht unglaubwürdig.