Von Helmut Kircher
Günzburg 60 000 Gedanken, so wurde man informiert, denke man täglich. Mag wohl sein. An jenem denkwürdigen Abend allerdings blieben 59 999 davon ungedacht, ein einziger nur beherrschte das Hirn: Wie macht er das?
Thorsten Havener, jugendliche 39 Jahre alt, Sonnyboy im maßgeschneiderten Saloppanzug, gilt als „Deutschlands bester Gedankenleser“. Was überhaupt nicht stimmt, denn er selbst sagt mehr als einmal „Gedanken lesen kann kein Mensch“, und demonstriert unmittelbar danach genau das Gegenteil. Führt er uns aufs Glatteis? Klar, tut er, denn er schärft uns auch ein: „Glauben Sie niemals einem Experten!“ Er ist Experte. Aber keiner für vorgebliches Gedankenlesen, sondern einer für das exakte Lesen in der menschlichen Psyche, für das Hantieren, Sezieren, Manipulieren und Konvertieren derselben. Doch ist er nicht nur ein Hexenmeister der Gedankentrickserei, sondern vielmehr noch der Beredsamkeit. Seine Rhetorik ist von bestechender Eleganz, seine Eloquenz von mitreißender Brillanz.
Ein kurzweiliger Zweistundenabend von doppelter Bedeutung: Für die veranstaltende Volkshochschule unterhaltsame Körper- und Geist-Show, für die finanzunterstützende Sparkasse Günzburg-Krumbach dienstleistungsoptimierendes Rhetorikseminar.
Die Reise durchs menschliche Bewusstsein beginnt mit einem Warm-up aus kollektivem Fußdrehen und Fingerverhakeln. Eine verblüffende Demonstration über den Einfluss von positiven oder negativen Gedanken auf die Steuerung unseres Bewegungsapparates. Beim Armbewegungstest bringt man unwillkürlich waagrecht und senkrecht durcheinander und dass die Wahrnehmung tatsächlich mehr dem Hör- als dem Sehsinn folgt, beweist sich an der Vertauschung von Wort- und Farbzuordnung.
Geradezu virtuos spielt der gelernte Dolmetscher und Persönlichkeitstrainer sein Röntgenblick-Raffinement auf der Tastatur tiefenpsychologischer Manipulationsfähigkeit aus. Kommt schon zur Anwendung bei der Auswahl seiner „Gäste“, die er auf die Bühne bittet, nein, eben nicht bittet, sondern holt. Ob der Delinquent nun die Münze in der oder der anderen Hand versteckt hält, mit traumhafter Sicherheit deutet der Meister auf die richtige. Die Zuordnung verdeckt angefertigter Zeichnungen an ihre Schöpfer, no problem, und was darauf dargestellt ist auch nicht. Hellseher Havener weiß alles nachzuzeichnen, bevor es gezeigt wird. Wie macht er das?
Die Frage stellt er selbst. Und gibt auch eine Art Antwort: Psychologische Fallen habe er aufgestellt. Weitere Weisheiten aus dem Nähkästchen fundierter Denkoffenbarung: Die Welt sei das, wofür wir sie halten – die Erwartungen bestimmen das Sehen. Dabei seien Gesichter das Fenster zur Seele. Wir hätten, sagt er, schlicht und einfach verlernt, genau hinzusehen. Dieses ergänzend: „Freundlichkeit ist der größte Manipulator“. Havener ist freundlich, überaus freundlich. So freundlich, dass ein Gast aus fünf gleichen Umschlägen – vier mit jeweils einem beträchtlichen Geldschein bestückt – nach einem scheinbar selbst gesteuerten Auswahlverfahren, den einzigen mit null Inhalt wählt.
Dann wechselt Havener das Spektrum unterhaltungspsychologischer Feinsinnigkeit mit dem der publikumswirksamen Bühnenzurschaustellung: Hypnoseshow. Ziemlich an die Nieren gehend, ja, für viele hochsensibler Grenzbereich vordergründigen Entertainments.
Voll die Unterhaltungsindustrie bedienend und mit reichlich Harry Potter Geschmack versehen dann das, was selbst Showprofis wie Kerner und Raab in ehrfürchtiges Staunen versetzt haben soll: Die Fähigkeit, mit hermetisch zugeklebten Augen „außergewöhnliche“ Gegenstände aus Publikumsvorrat, ohne sie zu berühren, genauestens nach Anzahl, Farbe, Inhalt und dergleichen zu erkennen und zu beschreiben. Hexerei oder Taschenspielertrick? Psychologie jedenfalls ist in diesem Falle wohl kaum besonders hilfreich.
Ergänzend zu den 60 000 Gedanken, die wir täglich denken: 57 000 seien, laut Studie, immer wiederkehrend die gleichen, 3000 nur neu.
Aber selbst unter geballtem Einsatz all dieser, die Frage aller Fragen bleibt bestehen: Wie macht er das?
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