Die innere Stimme gilt vielen als letzte Instanz. Doch kann man ihr wirklich trauen? Ein Selbstversuch
Chor der inneren Stimmen. Murmeln, Schimpfen, Kichern. Eine mahnend: "Nun fang endlich an zu schreiben. Morgen ist Abgabetermin!" Eine andere verführerisch: "Wo war noch mal die Schokolade versteckt?" Eine dritte vernünftig: "Man sollte mal die neue Software aufspielen." – "Flanieren! Röcke betrachten!", kreischt derweil eine vierte – sie kommt tief aus dem Bauch. "Hallo, ich frage dich jetzt zum letzten Mal: Bringst du endlich den Müll runter?" Das war eine Stimme von außen. Ich kenne sie – es ist die meiner Frau. Ich hatte sie vor lauter innerem Stimmengewirr nicht gleich gehört.
Man kennt diese inneren Stimmen, als Bauchgefühl oder "innerer Autopilot", als Synonym von Intuition. Unsensible umschreiben das Phänomen mit "Das hab ich im Urin". Die innere Stimme aber ist eine ganz große Sache unter Frauen und in ihren Magazinen. In den Schriften spiritueller Meister und Gurus. In der Coaching-Szene, bei Energiearbeitern und Quantenheilern. Unter Psychologen und Gehirnforschern. Und bei Psychiatern. Die Buchhandlungen quellen über von einschlägigen Ratgebern. In Zeiten, da wir weder mit Glauben noch mit Aberglauben zu tun haben wollen, stellt die innere Stimme eine Art Orientierung dar, einen irrationalen Rest unserer sinistren Vergangenheit.
Dennoch ist es mir ein Rätsel, wie die Leute das tatsächlich schaffen: ihre innere Stimme zu preisen als der Weisheit letzten Schluss, als Ratgeber in der Not, als Einflüsterer beim Lotto und während der Brautschau. Höre ich mal in mich rein, vernehme ich vor allem Krach. Gegensätzliche Meinungen oder Aufforderungen reden durcheinander: das schlechte Gewissen, der innere Schweinehund, das mit Werbebotschaften getränkte Bauchgefühl, der Schutzengel und der kleine Mann im Ohr. Lässt sich aus diesem Geplapper und Gezeter wirklich ein kluges und nützliches Votum herausfiltern?
Bei der norwegischen Prinzessin Märtha Louise tritt die innere Stimme als Engel auf. Der Zeitschrift
Gala
erzählte sie einmal von ihrem Erweckungserlebnis. Sie las gerade in einem Buch über Engel. "Plötzlich nahm ich eine liebevolle Nähe wahr und fühlte mich so geborgen wie noch nie. Alles duftete nach Rosen." Prompt bemerkte die Prinzessin die Hohlheit und den absurden Stress des höfischen Lebens, heiratete 2002 einen Schriftsteller, gab den Anspruch auf, "königliche Hoheit" genannt zu werden, und verzichtete sogar auf die ihr zustehende Apanage. Sie gründete eine "Engelschule", die Kindern beibringt, mit ihrem Schutzengel zu reden, sie schreibt Bücher über Engel und verdient heute deutlich besser als seinerzeit bei Hofe.
Wir lernen: Wer von inneren Stimmen profitieren will, muss in der Lage sein, sich für eine zu entscheiden und alle anderen – vielleicht schlecht gelaunten und kritischen – zum Schweigen zu bringen. Was könnten die Eltern sagen? Was könnten die Zeitungen schreiben? Werde ich arm sein? Gibt es überhaupt Engel? Habe ich was Falsches gegessen? All diese Stimmen hat Märtha Louise ignoriert – und dank der Engelsstimme ihr Leben verändert.
Bei meinen wenigen wirklich wichtigen Entscheidungen – Ausbildung beginnen, Ausbildung abbrechen, Beziehung beginnen, Beziehung beenden, Auto kaufen, Auto abstoßen – habe ich es immer gehalten wie die Prinzessin. Nur dass ich keine Engelsstimmen hörte. Doch wie sie verließ ich mich unter Ausblendung mahnender Einflüsterungen (und besonders: vernünftiger Einwände) auf ein plötzliches "Bauchgefühl", dem ich absolute Gültigkeit zusprach. Zurückschauend erreichte ich damit eine Trefferquote von etwa 50 Prozent. Ich hätte auch würfeln können.
Das miserable Resultat rührt daher, dass sich die innere Stimme in allen genannten Fällen auf eine magere Datenbasis stützte. Wer keine fünf Berufe hat und weder ein Don Juan noch ein Autonarr ist, der kann in solchen Fragen von seinem Bauch wenig erwarten. Anders sieht es bei den zahllosen Alltagsentscheidungen aus, die wir ununterbrochen treffen. Hier leiten uns innere Stimmen und Bauchgefühle ziemlich gut. Die Wissenschaft spricht lieber von Intuition. Wer vor einer Entscheidung steht, kann sein logisches Denkvermögen bemühen. Oder eine Nacht darüber schlafen. Letzteres führt oft zu besseren Resultaten.
Die Grundlage guter Intuition ist der Schatz des Erfahrungswissens, über viele Jahre abgelagert in den Kellern der Vernunft. Ein Torwart etwa kann sie sogar trainieren. Tausendmal muss er erleben, wie der Ball auf sein Tor zufliegt. Intuitiv erkennt er irgendwann die Flugkurve direkt nach dem Abschuss im Voraus. Auch die Ehe ist ein gutes Beispiel: Nach ausreichendem Training weiß man intuitiv, wann man nicht das letzte Wort behalten sollte.
Von der Arbeit des Erfahrungsschatzes merken wir selten etwas. Ich stehe bei Edeka vor dem Marmeladenregal. "Nimm die Hausmacherkonfitüre!", ruft die Stimme der Sehnsucht nach Heimat. "Probier mal die neue, sauteure englische Marmelade", säuselt die Stimme der Abenteuerlust. Die Intuition aber packt die billige Hausmarke ein. Sie agiert am Chor der Stimmen vorbei. Diskussion überflüssig. Erstens kennt sie den Kontostand. Und zweitens nehmen alle die billige Marmelade.
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