Tagträumen, das ist was für Menschen ohne geistige Disziplin. Ein kindischer
Zug, von dem Experten sogar dachten, er könne neurotisch machen. Sigmund
Freud warnte: „Tagträume sind die nächsten Vorstufen hysterischer Symptome."
Nun kommen Forscher dem Sinn der Träumerei auf die Spur. Jonathan Schooler,
Professor für Psychologie an der University of California in Santa Barbara,
erzählt, wozu Tagträume gut sind.
Morgenpost Online: Manchmal flieht unser Gehirn vor der Realität, und
wir beginnen, vor uns hinzuträumen. Was soll das?
Jonathan Schooler: Unsere Gedanken springen zwischen internen und
externen Angelegenheit hin und her. Sie konkurrieren um unsere
Aufmerksamkeit: Auf der einen Seite gibt es Ziele, die wir erreichen wollen,
Pläne, die dafür geschmiedet werden müssen, und einfach Dinge, die uns
unklar sind und über die wir nachdenken müssen. Auf der anderen Seite steht
das, womit wir uns im Hier und Jetzt eigentlich beschäftigen sollten,
E-Mails checken zum Beispiel. Wenn diese Aufgaben uns nicht so viel
abverlangen, reagiert unser Gehirn effizient: Es schaltet unsere Gedanken
um, auf die Dinge, die uns innerlich beschäftigen. Andererseits kann es
natürlich auch sein, dass unser Geist nur eine Pause braucht. Tagträumereien
sind eine gute Möglichkeit zur Erholung.
Morgenpost Online: Sagen Sie, die Gedanken einfach schweifen zu lassen
sei effizient? Das kommt mir nicht so vor…
Schooler: Na ja, Sie werden vielleicht nicht sehr erfolgreich in dem
sein, woran Sie eigentlich gerade arbeiten. Aber sagen wir, Sie wären dabei,
mit Ihrem Hund spazieren zu gehen, oder stünden unter der Dusche: In diesen
Situationen hat Ihr Gehirn freie Kapazitäten, die Sie nutzen können – etwa
zum Tagträumen.
Morgenpost Online: Gibt es also gute und schlechte Tagträume?
Schooler: Tagträume sind eine zwiespältige Angelegenheit. Sie sind zum
Beispiel der Hauptgrund für Verständnisschwierigkeiten beim Lesen. Menschen
träumen auch während wichtiger Prüfungen. Hier kann man sogar an der Zahl
der Tagtraumepisoden das Testergebnis vorhersehen. Morgen fahre ich zur
Nasa, um mit Wissenschaftlern darüber zu sprechen, wie wichtig Achtsamkeit
für die Luftfahrt ist. Natürlich ist ein träumender Pilot eine große Gefahr.
Eine Form des Tagträumens, die mich besonders interessiert, ist die Form,
wenn einem bewusst ist, dass man gerade mit den Gedanken woanders ist. Das
nennt man Meta-Bewusstsein.
Morgenpost Online: Was unterscheidet denn dann das aktive Denken von
bewussten Tagträumen?
Schooler: Da scheiden sich die Geister. In meiner Auffassung sind
Tagträume eine große Kategorie, die all die Gedanken umfasst, die sich nicht
mit der unmittelbaren Umgebung, der Gegenwart beschäftigen.
Morgenpost Online: Was passiert eigentlich im Kopf, wenn wir tagträumen?
Schooler: Es gibt ein Netzwerk von Gehirnarealen – bekannt als das
„Default Network“. Es ist gerade dann aktiv, wenn der Mensch keiner
Tätigkeit nachgeht. Das verblüfft Neurowissenschaftler: Warum sollte das
Gehirn aktiv sein, wenn es nichts zu tun hat?
Morgenpost Online: Welche Rolle haben Tagträume in der evolutionären
Entwicklung des Menschen?
Schooler: Wahrscheinlich ist, dass der Mensch im Lauf der Evolution
gelernt hat, dieses „Default Network“ sinnvoll einzusetzen. Wir denken damit
über unsere Zukunft in einer Weise nach wie keine andere Spezies. Das
scheint auch eine wichtige Funktion des Tagträumens zu sein: das Hier und
Jetzt zu verlassen und vorauszudenken.
Morgenpost Online: Macht Tagträumen kreativer?
Schooler: Bisherige Studien haben gezeigt, dass Menschen mit
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen, von denen bekannt ist,
dass sie viel tagträumen, außerordentlich kreative Lösungen für bestimmte
Aufgaben finden. In einem Versuch sollten Probanden möglichst viele
Nutzungsweisen für einen Ziegelstein finden. Wenn man ihnen zwischendurch
eine einfache Aufgabe stellte, die zum Tagträumen anregt, kamen sie auf mehr
Lösungen als eine Vergleichsgruppe, die ohne Unterbrechung nachdachte.
Morgenpost Online: Wie kann ich meine Tagträume denn sinnvoll nutzen?
Schooler: Mein Rat ist: Seien Sie sich über Ihre Tagträume bewusst.
Versuchen Sie, es zu vermeiden, wenn Sie mit etwas beschäftigt sind, was
volle Konzentration verlangt. Fragen Sie sich immer wieder selbst, ob Sie
gerade aufpassen, was Sie tun. Dann können Sie überlegen, welche
Gelegenheiten sich für einen Tagtraum anbieten. Gehen Sie spazieren oder
stricken Sie. Nutzen Sie diese Möglichkeit, um neue Gedanken einfach auf Sie
zukommen zu lassen. Lassen Sie ihnen freien Lauf.
Morgenpost Online: Wer ist verträumter: Kinder oder Ältere?
Schooler: Ältere Menschen tagträumen weniger. Das ist interessant, weil
Tagträumen oft als eine geistige Ausfallerscheinung angesehen wird – und die
nehmen ja im Alter gemeinhin zu. Doch das scheint nicht der Fall zu sein.
Unglücklicherweise ist es so, dass ältere Menschen im Allgemeinen weniger
kognitive Kapazitäten übrig haben, um sie für Tagträumereien zu
verschwenden. Was für einem jungen Menschen leicht fällt, kann für einen
alten Menschen zu einem schwierigen Problem werden.
Erschienen am
16.01.2012