Psychologie: Rituale geben Autisten Sicherheit

Stuttgart - Christine Preißmann ist Medizinerin. Und Betroffene: mit 27 Jahren wurde bei ihr das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Für sie war es eine große Erleichterung, weil sie damit Antworten auf Fragen zu ihrem andersartigen Leben bekam, die sie schon lange beschäftigt hatten. Seither befasst sie sich mit dieser Entwicklungsstörung, auch als Buchautorin. In Stuttgart war sie jetzt im Zentrum Rotebühlplatz Gast in der Veranstaltungsreihe „Gesundheit beginnt im Kopf“. Im Gespräch mit Suso Lederle, dem Moderator der Reihe, berichtete sie über ihre Erfahrungen als Asperger-Autistin. Und sie gab Betroffenen und Angehörigen vielfältige Tipps im Umgang mit dieser tief greifenden Entwicklungsstörung.

Auch die 1970 geborene Christine Preißmann hat – wie viele andere Betroffene – als Kind und Heranwachsende stark unter dem Anderssein gelitten. „Die Schulzeit war die schlimmste Zeit in meinem Leben“, sagt sie heute. Später habe sich vieles zum Besseren gewendet. „Man darf da nie aufgeben“, macht sie anderen Betroffenen Mut. Heute kommt sie ganz gut mit ihrem Leben zurecht – das sie allerdings gerne als ein Leben in zwei Welten bezeichnet. Da ist zum einen die relative Normalität im anstrengenden Beruf, „wo ich nicht ich selbst sein kann“, wie sie sagt. Und zum anderen das Leben zu Hause, wenn der Stress abfällt und sie das tun kann, was ihr gut tut, etwa „auch im Sommer meine geliebten Weihnachtslieder hören“.

Wie lässt sich überhaupt feststellen, ob ein Mensch an Asperger leidet? Die Bandbreite der Symptome ist groß, das wird auf der Veranstaltung immer wieder deutlich. Und auch die Übergänge zur Normalität sind fließend. „Jeder autistische Mensch ist ein anderer Autist“, betont Preißmann. Gleichwohl gibt es einige offenkundige Symptome, die allerdings mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können.

Phasen der Ruhe sind besonders wichtig

Besonders typisch sind Defizite im Umgang mit anderen Menschen – Asperger-Autisten verhalten sich oft ungeschickt und anders als „normal“. So fällt es vielen Betroffenen zum Beispiel schwer, zwischen ernsten und humorvoll gemeinten Äußerungen von Mitmenschen zu differenzieren. Auch nehmen sie gerne Redewendungen wörtlich, wie Christine Preißmann aus Erfahrung berichtet – etwa wenn jemand vor Ärger „in die Luft geht“ oder „ein Brett vor dem Kopf hat“. Vielen fällt es schwer, im Alltag ungewohnte Situationen zu meistern, zum Beispiel sich in einem unbekannten Schwimmbad zurecht zu finden.

Entsprechend schwierig ist die Diagnose, vor allem bei Erwachsenen. Hier gibt es bisher noch keine standardisierten Tests – im Gegensatz zu Kindern. Dort werden die Eltern befragt, zudem wird das Kind beim Spielen beobachtet. Allerdings dauert es auch hier viele Stunden, bis Fachleute zu einer Diagnose kommen. Die Feststellung indes, ein Kind habe „autistische Züge“, hilft nur begrenzt weiter, weil dies noch keine (finanzielle) Unterstützung garantiert. Andererseits wünscht sich wohl manch ein Betroffener auch gar keine genaue Diagnose. Wichtig sei auf jeden Fall, genau zu schauen, was der Betroffene am ehesten brauche, betont Preißmann.

Trotz aller Schwierigkeiten kommen viele Asperger-Kinder in einer normalen Schule ganz gut zurecht, glaubt sie. Allerdings sind nach ihrer Erfahrung Konzentration und Aufmerksamkeit oft ein großes Problem. Besonders zu schaffen machen vielen Betroffenen auch Reizüberflutung und andere Stressfaktoren. Umso wichtiger sind Phasen, in denen sie alleine zur Ruhe kommen können. Große Bedeutung haben auch feste Strukturen und Rituale, weil sie Sicherheit und Stabilität geben. All diese Eigenarten führen dazu, dass Freundschaften nicht so einfach sind – auch hier müsse man genau auf die Wünsche der Kinder eingehen, betont Christine Preißmann. Viele Asperger-Kinder hätten gar kein so großes Interesse an Freundschaften und seien auch alleine ganz zufrieden.

Leider müssen viele betroffene Kinder und Jugendliche wegen ihres Andersseins mit den Hänseleien ihrer Mitschüler fertig werden. Hier können Schulbegleiter und Integrationshelfer wertvolle Dienste leisten, etwa als eine Art Dolmetscher zwischen dem autistischen Kind und seinen Mitschülern, aber auch seinen Lehrern. Bei anerkannten Betroffenen übernähmen in der Regel die Eingliederungshilfen der Sozial- und Jugendämter die Kosten, berichtet Christine Preißmann.

Manche Unternehmen stellen gezielt Autisten ein

Die Unterstützung kann ganz unterschiedlich sein. Hilfreich sind verhaltenstherapeutische Maßnahmen, etwa ein soziales Kompetenztraining: Wie kann ich ein Gespräch beginnen? Wie telefoniere ich richtig? Bei manchen erwachsenen Betroffenen ist auch ganz praktische Lebenshilfe hochwillkommen, etwa die Unterstützung bei Behördengängen. Gleichwohl bleiben bei vielen Betroffenen lebenslange Probleme, etwa das Fehlen eines Partners und, damit verbunden, die Einsamkeit. Es gibt manche Betroffene, bei denen eine Partnerschaft funktioniert und die Kinder haben, aber für viele andere bietet sich diese Möglichkeit nicht. „Wenn andere nicht auf uns zugehen, dann bleiben wir allein“, beschreibt Christine Preißmann anschaulich das Alltagsleben vieler Betroffener.

Insgesamt jedoch sieht die Ärztin zahlreiche positive Ansätze im Umgang mit Asperger-Autisten. Zwar gibt es in den spezialisierten Zentren immer noch lange Wartezeiten, „aber da wird sich in den nächsten Jahren viel tun“, glaubt Preißmann. Das bezieht sie ausdrücklich auch auf den sozialen Umgang mit Betroffenen.

Als besonders positiv empfindet sie, dass manche Unternehmen gezielt autistische Menschen wegen ihrer ganz speziellen Fähigkeiten einstellen wollen. Sie räumt andererseits aber auch ein, dass viele Betroffene im Beruf weit unter ihren intellektuellen Möglichkeiten bleiben müssen – wenn sie denn überhaupt im normalen Berufsleben Fuß fassen, was vor allem in ländlichen Gebieten schwer ist. So bleibt am Ende der Veranstaltung das Fazit, dass sich im Umgang der Gesellschaft mit Asperger-Autisten manches in positiver Richtung geändert hat, für eine weitere Verbesserung aber durchaus noch Luft nach oben ist.

Leave a Reply