Mehr als 70 Meter müssen die Betonpfeiler der Brenner-Autobahn hoch sein, wo die Trasse das Tal der Ortschaft Gries überbrückt. Monotones Rauschen ohne Unterbrechung, es ist 8.30 Uhr, Stoßzeit, auf den Lastwagen stehen Firmennamen. Cesped, Codognotto, Dachser, Dettendorfer, Fercam, Frisinghelli.
Pauli Trenkwalder macht ein Foto von dem grauen Wunder menschlicher Baukunst. "Das da oben ist die Arbeitswelt", sagt der 37-Jährige und deutet auf die bunten Lkw, die in kurzen Abständen über den Asphalt röhren. Dann dreht er sich um, dem Berghang zu: 30 Zentimeter Neuschnee letzte Nacht, bislang keine Skispur, Lärchen säumen das Weiß. "Und wir gehen jetzt da rauf!"
Die Menschen weit weg von ihrem Job, weg von der Autobahn zu bringen, das ist Trenkwalders Beruf. Seit zehn Jahren ist er Bergführer, vorher hat er in Innsbruck sein Psychologie-Diplom gemacht. Jetzt verbindet er beides und bietet Coachings auf Alpintouren an. Zu ihm kommen Burnout-Gefährdete, Menschen vor schweren beruflichen Entscheidungen, mit Beziehungsproblemen oder Arbeitsteams, die ihre Zusammenarbeit verbessern wollen.
Auf seinen Tourenski stapft er voraus, von den ersten Schritten an in einem so gleichmäßigen Rhythmus, dass man ein Metronom danach eichen könnte. Das gemeinsame Erlebnis in der Natur hilft Trenkwalder dabei, einen Zugang zu den "Coachees" zu finden, wie er seine Kunden nennt. "Als Bergführer kriegt man viel mit von den Menschen, erlebt Ängste, Unsicherheit und Euphorie, da steht jemand so vor dir, wie er ist, und trägt keine Maske", sagt Trenkwalder, roter Fleecepulli, Lachfalten um die Augen, halslange schwarze Haare.
Lawinengeräusche am Wegesrand
Auf dem Rücken trägt er einen neongrünen Rucksack mit Lawinen-Airbag, heute herrscht Warnstufe vier, die zweithöchste Gefahrenklasse. Deshalb hat er eine einfache Tour zum 2115 Meter hohen Sattelberg ausgewählt. Eine kluge Entscheidung, es ist der Tag, an dem etwas mehr als 100 Kilometer entfernt der holländische Kronprinz Friso in eine Lawine gerät und lebensgefährlich verletzt wird.
Es dauert fast eine Stunde, bis endlich der Lärm der Schnellstraße verstummt, weil Bäume die Route abschirmen. Jetzt ist nur noch das Klacken der Skischuhe auf der Bindung zu hören, das Knirschen des Schnees bei jedem Schritt, der eigene Atem. Und plötzlich ein dumpfer Schlag von links. "Hast du das gehört?" Irgendwo in der Nähe muss ein Schneebrett heruntergekommen sein, ein Warnsignal der Südtiroler Natur.
Noch ist die Zivilisation gegenwärtig, riesige Strommasten säumen die Aufstiegsroute bis zur eingeschneiten Sattelbergalm auf 1633 Metern, einer idyllischen Holzhaus-Gruppe, makellos wie ein Playmobil-Modell. Hier biegt Trenkwalder nach rechts ab, zu einem steileren Hang.
Eigene Verhaltensmuster ergründen
Windböen von vorne lassen die Wangen taub werden. Der Sturm rauscht anders als die Schnellstraße auf dem Viadukt unten, Böen pfeifen, beißen, zischen, werden stärker und schwächer. "Die Autobahn, das ist Techniklärm, der hat keine Relevanz, der nervt nur", sagt Trenkwalder. "Der Wind dagegen ist ein Element, es ist wichtig für unsere Sicherheit, darauf zu achten." Die Geräusche der Natur haben eine Bedeutung für den, der sich ihnen aussetzt, sind nicht reine Schikane. Wer sie ignoriert, riskiert möglicherweise sein Leben. Das Gleiche gilt hier in der Natur für den, der falsche Entscheidungen trifft, sich zu viel zumutet oder unklar kommuniziert.
Vielleicht ist wegen der direkt spürbaren Konsequenzen des eigenen Tuns die Ausgesetztheit besonders geeignet, um eigene Verhaltensmuster zu ergründen: Blockaden im Kopf, die Entscheidungen erschweren. Gefühlte Zwänge, die einen dazu treiben, sich im Job zu überfordern. Fehler, die Gespräche mit anderen erschweren. Üben können Trenkwalders Kunden häufig auch den Umgang mit einer Niederlage - denn auch ihr Scheitern müssen viele unterwegs akzeptieren, wenn ein Wandstück oder eine Abfahrt schließlich doch zu schwierig ist.
Coachen hat wenig mit Kuscheln zu tun, das wissen Fußballfans spätestens seit Felix Magath und TV-Junkies dank Heidi Klum. Wer mit Trenkwalder losspazieren will, muss vorher sein Einverständnis erklären, so wie ein Patient vor einer Operation. Denn es ist gut möglich, dass es alles andere als ein Vergnügen ist, in die Tiefen der eigenen Persönlichkeit vorzudringen. "Ein Coaching ist oft anstrengend, genau wie das Bergsteigen. Man muss sich auch mal quälen, und manchmal tun sich Abgründe auf", sagt Trenkwalder.
Wenn er mit einem Kunden unterwegs ist, versucht er, Verhaltensmuster aufzudecken, die seit früher Jugend - etwa durch Abgucken von den Eltern - verinnerlicht wurden. Möglicherweise haben sie sich vielfältig bewährt , aber in der aktuellen Situation stören sie. Das kann enorme Vorsicht sein. Eine aufbrausende Art. Ein ausgeprägter Hang, jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen.
"Das Herz ist offener"
"Es war unglaublich, wie schnell der Coach mich und meine Situation abgecheckt hat", berichtet Martina Schwarz*, 35. Die selbständige Grafikdesignerin aus Wien buchte im Dezember 2011 eine Tour mit Trenkwalder, weil sie das Gefühl hatte, mit jedem neuen Auftrag überfordert zu sein. Sie wollte nicht mehr arbeiten, fühlte sich ausgebrannt.
Ihr Leben lang war sie gerne in den Bergen unterwegs gewesen - "da geht's mir einfach am besten". Schwarz hat das Coaching geholfen: "Das bringt viel, vor allem, weil es mehrere Stunden am Stück sind, in denen man gemeinsam Lösungen erarbeitet. Durch die Bewegung, vor allem die Aufwärtsbewegung, bin ich viel mehr bei mir, das Herz ist offener und empfänglicher für neue Einsichten und Lösungen."
Der Himmel am Sattelberg zieht stärker zu, der Sturm wird kräftiger, lässt Hosenbeine und Ärmel flattern: "100 km/h werden das schon sein", ruft Trenkwalder, Windstärke zehn. Als im Schneenebel das Gipfelkreuz keine 30 Meter mehr entfernt ist, stoppt er neben einer Gruppe junger Fichten, die zumindest rudimentären Schutz vor den Elementen bieten. "Da gehen wir jetzt nicht mehr hoch", sagt der Bergführer.
Er zieht die Steigfelle von den Skiern, stellt Bindungen und Schuhe in den Abfahrtsmodus um. Etwa minus zehn Grad herrschen hier oben, aber durch den Zug sind es gefühlt minus 25. Ein Coaching ist nicht immer ein Spaß, eine Bergtour auch nicht.
Nach den ersten Abfahrtsschwüngen ist jedoch alles vergessen: Champagner-Pulverschnee, butterweich zu fahren, "wie in Kanada ist das hier", jubelt Trenkwalder und rast in einer weißen Wolke in Richtung Alm, in Richtung Brenner-Autobahn, in Richtung Alltag.
Weichst du immer Konflikten aus?
Eine Stunde später sitzt er im Restaurant "Prinzessin Europa". Trenkwalder ist hier "der Pauli", es gibt Tagliatelle mit Wildragout, Schüttelbrot und Spinatspatzen, und beim Essen demonstriert der Coach noch einmal, wie er arbeitet.
Wie würde er reagieren, wenn nun ein Kunde sich beschwert, dass er so kurz vor dem Gipfel umgekehrt ist wie heute? "Dann würde ich sagen: 'Davon habe ich da oben nichts gemerkt, da kam kein Gegenvorschlag - und jetzt hier unten im Tal erzählst du mir das?'"
Ist der Coachee erstmal so in die Defensive gedrängt, folgt eine Verallgemeinerung: "Gibt es noch andere Bereiche in deinem Leben, bei der Arbeit, in der Beziehung, wo du Konflikten ausweichst, dich aber später darüber ärgerst?", würde Pauli dann weiterbohren, und schon ist man beim Thema. "Ich mache dann aber nicht weiter Vorwürfe", an diesem Punkt müsse die konstruktive Arbeit beginnen. Dabei sieht er sich mehr als Begleiter, weniger als Ratgeber, eine To-Do-Liste gibt er keinem mit nach Hause. "Meistens kennen die Coachees selbst die Lösung für ihr Problem - man muss sie nur da hinführen."
*Name geändert