Riesige Geschirrberge, bis an die Decke gestapelte Müllsäcke und gehortete Essensreste: Wie in den Horrorszenarien einschlägiger Fernsehsendungen sah es bei Janice Pinnow aus Lüneburg selbst auf dem Höhepunkt ihrer Erkrankung nicht aus. Und dennoch: Sie ist ein Messie, in ihrer Wohnung herrschte jahrelang Chaos – Körbe mit ungebügelter Wäsche hier, zusammenbrechende Regale dort.
Foto: pa / dpa
In solch eine Wohnung mag ein Messie kaum jemanden einladen. Das führt irgendwann zur Vereinsamung
Von dem Messie-Syndrom erfuhr die Vorsitzende des Landesverbandes der Messies im norddeutschen Raum in einem Zeitungsbericht: „Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das bin ich, und ich bin damit nicht alleine.“ Selbsthilfegruppen schätzen die Zahl der Messies in Deutschland auf etwa zwei Millionen.
Netzwerk
der Messie-Selbsthilfegruppen und Angehörigen-Selbsthilfegruppen
Förderverein zur
Erforschung des Messie-Syndroms
Landesverband der
Messies im norddeutschen Raum
Rainer Rehberger: "Messies – Sucht und Zwang". Klett-Cotta. 24,95 Euro, ISBN
978-3-608-89049-5
Thomas Ritter: "Endlich aufgeräumt! Der Weg aus der zwanghaften Unordnung".
Rowohlt. 8,95 Euro, ISBN 978-3-499-61591-7
„Messies sammeln in der Regel unbrauchbare Dinge, können diese nicht wegwerfen und verlieren schließlich den Überblick darüber“, sagt Professor Alfred Pritz von der Sigmund-Freud-Universität in Wien.
Der Diplom-Psychologe Werner Gross aus Offenbach fasst das Syndrom weiter und spricht von einer Desorganisationsproblematik. „Messies haben Schwierigkeiten damit, ihren Alltag räumlich und zeitlich zu strukturieren.“ Sie sind häufig impulsiv und leicht ablenkbar, kommen ständig zu spät und können ihre Energie nicht steuern. „Ihr inneres Chaos spiegelt sich schließlich in einem äußeren wider.“
Messies wollen aufräumen, können aber nicht. „Hinter ihrem Verhalten steckt also keine Faulheit“, sagt Pritz. Im Gegenteil: Häufig sind Messies sogar Perfektionisten. „Im Beruf vollbringen sie oft große Leistungen, aber mit den kleinen Aufgaben des Alltags sind sie völlig überfordert.“
Teil anderer psychischer Störungen
Allerdings wird nur eine Minderheit der Betroffenen zu schlimmen Vermüllungsfällen, die das Endstadium des Syndroms bilden. „Die Wohnungen der Betroffenen werden unbewohnbar“, sagt Gross.
Das Messie-Syndrom als solches ist bislang noch nicht definiert und auch nicht im internationalen Krankheitskatalog enthalten. Als Diagnose wird es deshalb von den Krankenkassen nicht anerkannt, zumal eine Abgrenzung zu anderen Krankheiten schwierig ist. „Häufig ist es Teil anderer psychischer Störungen wie einer Demenz oder Psychose. Viele Messies sind zudem depressiv“, sagt Pritz.
Auch Süchte und Zwangserkrankungen gehen oft mit dem Syndrom einher. „Grundsätzlich stellt das Messie-Syndrom aber ein eigenes Krankheitsbild dar.“
Familie räumt hinterher
Wann wird Unordnung also krankhaft? „Sie wird dann problematisch, wenn sie den sozialen Lebenskontext der Betroffenen so einengt, dass sie daran leiden“, erklärt Pritz.
Wann Messies ihr Chaos nicht mehr ertragen, ist sehr unterschiedlich. „Solange sie nicht stark behindert sind, können selbst fortgeschrittene Messies keinen Leidensdruck spüren, etwa, weil ihnen die Familie ständig hinterherräumt.“
Messies leiden vor allem an ihrer sozialen Isolation. „Aus Scham laden sie niemanden zu sich ein und lehnen Einladungen ab, sagt Pinnow. Ihre Kontakte reißen ab, und die Messies vereinsamen. Zudem entwickeln viele Betroffene Verschleierungstaktiken. In ihren Wohnungen sind Messies so, wie sie sind, aber nach außen präsentieren sie sich so, wie sie sein wollen. „Viele sind elegant gekleidet und sehr gepflegt. Manche haben sogar mehrere Wohnungen oder leben in ihrem Auto, weil zu Hause kein Platz mehr für sie selbst ist.“ Eine normale Fassade aufrechtzuerhalten, ist eine zusätzliche Belastung.
Bindungsstörungen als Ursache?
Die Ursachen des Syndroms sind noch nicht wissenschaftlich geklärt. Häufig wird es mit Bindungsstörungen erklärt, die in den ersten Lebensjahren durch mangelnde Zuwendung der Eltern entstehen können. Ihre Trennungs- und Verlustängste versuchen Messies damit zu kompensieren, dass sie emotionale Beziehungen zu ihren angesammelten Gegenständen aufbauen.
„Die Sachen können ihnen nicht wehtun: Sie laufen nicht weg und können nicht enttäuschen, was Messies ein Gefühl von Sicherheit gibt“, sagt Pinnow. Was für andere nur alte Gegenstände sind, sind für Messies wie Familienangehörige. „Zwangsräumungen sind deshalb besonders tragisch und können sogar zum Suizid führen.“
Wenn Freunde und Verwandte einem Messie beim Aufräumen helfen, sollten sie ihm deshalb das Gefühl vermitteln, dass seine Schätze ein schönes neues Zuhause finden oder anderen Menschen zugute kommen, rät Pinnow, etwa durch die Altkleidersammlung Armen und Obdachlosen.
Therapie nicht nur den Verhaltens
Eine Therapie von Messies sollte sich aber nicht allein auf eine Verhaltenstherapie beschränken. „Das würde die emotionale Seite des Problems völlig ausblenden und hätte nur kurzfristigen Erfolg“, sagt Gross.
An einer Psychotherapie führe kein Weg vorbei. „Wichtig ist, dass die äußere Verhaltensänderung langfristig zu einer Umstrukturierung des inneren Chaos führt.“ Gemeinsam mit dem Betroffenen könne man einen Bereich aussuchen, der nicht mehr vollgemüllt werden darf, und diesen dann Schritt für Schritt auf die gesamte Wohnung ausdehnen.
Alles sollte mit dem Betroffenen abgesprochen werden und freiwillig erfolgen. „Wenn die Messies merken, dass sie sich wieder selbst kontrollieren und auf sich verlassen können, erlangen sie ihren Selbstwert nach und nach zurück und können sich letztlich selbst annehmen.“
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