Psychologie Heute

27.08.2015 -

Nichts und niemand hat mehr Zeit. Alles muss schnell gehen.
Was richtet dieses Leben auf der Ãœberholspur mit uns an?
Und wo ist die Bremse, die das Tempo verlangsamen könnte?

(von Heiko Ernst) E-Mail statt Brief. SMS statt E-Mail. Expresslift
statt Treppensteigen, Newsticker
statt Zeitung. Onlineshopping
statt Einkaufsbummel, Mikrowelle
statt Schmortopf. Fast Food statt selbst
kochen. Abitur in acht statt in neun Jahren. Bologna-
Bachelor statt Diplomstudium. Powernapping statt
Mittagsschlaf. Digitales Partnershoppen statt analoges
Rendezvous. Kurztherapie statt Psychoanalyse.
Multitasking statt Konzentration.


Psychologie Heute (September 2015)

Das Tempo unseres Lebens nimmt zu, wir gehen,
lesen, entscheiden, arbeiten immer schneller. Beschleunigung
ist das Markenzeichen unserer Zeit.
Sie verändert unser Leben, macht uns langsam mürbe.
Wir fühlen uns überwältigt, überfordert, überreizt.
Das Gefühl, keine Zeit zu haben (oder nicht
genügend davon), nimmt überhand. Und der seltsamerweise
daraus erwachsende Wunsch, dass alles
noch schneller gehe, lässt uns hektisch auf den Liftknopf
oder die Ampelschaltung drücken, wohl wissend, dass dies sinnlos ist. Aber schon eine kleine
Wartezeit ist uns unbehaglich – denn wir "verlieren"
ja Zeit, die wir woanders dringend bräuchten.

Welche Veränderungen und welche Symptome die
beschleunigten Lebens- und Arbeitsweisen bei uns
hervorrufen, zeigt die Analyse von Lebensbereichen,
die besonders vom großen Zeitdruck betroffen sind:

Arbeit: Der Kult der Dringlichkeit

In der digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt
muss immer mehr schnellstens und sofort stattfinden – in "Echtzeit" also. Die französische Psychologin Nicole
Aubert hat in vielen Berufen und Branchen einen
"Kult der Dringlichkeit" entdeckt. Arbeitsfelder, in
denen Verdichtung und Beschleunigung besonders
zunehmen, sind davon erfasst. Drei neue Formen, Zeit
zu leben und zu erleben, sind entstanden:

– Die modernen Kommunikationstechniken (Internet,
Handy, E-Mail) haben "das Augenblickliche"
etabliert: Alles kann sofort mitgeteilt, angestoßen,
angeordnet oder nachgefragt werden. Eine Idee, eine
Frage, ein Zweifel taucht auf – sofort kann darüber
kommuniziert werden. Das wird nicht nur als praktisch
empfunden, sondern ist fast schon eine Form
von Allgegenwart und Omnipotenz. "Der Computer
wirkt wie elektronisches Kokain", urteilt der Neurobiologe
Peter Whybrow von der University of California
in Los Angeles. Einschlägige Forschungsergebnisse
über die sogenannten nichtstoffgebundenen
Süchte (wie etwa Spielsucht oder Pornografiesucht)
zeigen, dass inzwischen auch Internetsucht – die Unfähigkeit,
offline zu sein – im Gehirn genau so funktioniert
wie eine Drogensucht.

– Die Möglichkeit, sofort auf Anfragen, Wünsche
oder Anordnungen zu reagieren oder Antwort zu
erhalten, erzeugen "das Unmittelbare". Auch das ist
zunächst eine angenehme und nützliche Errungenschaft,
die zudem Zeit und Geld spart. Das Augenblickliche
und das Unmittelbare erzeugen im Zusammenspiel
eine "Hyperreaktivität", deren Symptome
so aussehen: Am Telefon fragt der Geschäftspartner
in leicht angesäuertem Ton: "Ich habe Ihnen
vor einer halben Stunde eine Mail geschrieben. Haben
Sie die nicht erhalten?" Die Amerikaner sprechen
vom ICYMI-Syndrom: In case you missed it – für den
Fall, dass Sie das verpasst haben. Weil alles jederzeit
zugänglich ist, gibt es keine Ausrede mehr dafür, nicht
zu reagieren.

– Und schließlich der größte Beschleunigungstreiber,
die "Dringlichkeit": Was früher einmal für Notfälle
oder Krisen reserviert war, ist nun der Normalfall:
Wir müssen jetzt ganz schnell handeln, jedenfalls
früher als die Konkurrenz. Nicole Aubert prophezeit:
Der Kult permanenter Dringlichkeit wird jede Firma,
jede Organisation, jede Arbeit durchdringen.

Diese Art zu funktionieren und immer nur auf die
unmittelbaren Anforderungen zu reagieren, führt
über kurz oder lang zum psychischen und körperlichen
Verschleiß, zu Symptomen wie Nervosität, Erschöpfung,
gesteigerter Empfindlichkeit. Und zu einer
"Korrosion des Charakters", wie es der Soziologe
Richard Sennett nennt: In einer Gesellschaft, die
sich nur für das Unmittelbare interessiert und die
von ihren Mitgliedern permanente Flexibilität und
Reaktionsbereitschaft verlangt, können nicht nur
keine dauerhaften sozialen Beziehungen entstehen,
der Einzelne erfährt auch keine Selbstkontinuität
mehr. Nicole Aubert registriert bei vielen Personen,
die länger im Dringlichkeitsmodus gearbeitet haben,
"völlig hysterische Reaktionsweisen", vorzeitige Alterungsprozesse
und Erschöpfungsdepressionen.

Ganz abgesehen davon, dass auch die Qualität der
Arbeit leidet. Sofortentscheidungen, schnellstens gefundene
"Lösungen" und zusammengeschusterte
Arbeitsergebnisse sind alles andere als optimal. Denn
das Dringende ist bei weitem nicht immer das Wichtige.
Und fatalerweise kann im Dringlichkeitsmodus
gar nicht mehr unterschieden werden, was dringend
und wichtig, was wichtig, aber nicht dringend, oder
was nur dringend, aber nicht wichtig ist. Denn dazu
bräuchte es – mehr Zeit. Zeit zur Problemanalyse,
zur Reflexion. Und das wirklich Wichtige, von dem
die Zukunft vielleicht abhängt und das mit größter
Sorgfalt geplant und bedacht sein muss, das aber nicht
unbedingt dringend ist, bleibt im puren Dringlichkeitsdenken
auf der Strecke.

Lesen, Schreiben, Denken: Triumph der Flüchtigkeit

Der Computer ist nicht nur das zentrale Kontakt-,
Informations- und Arbeitsmedium unserer Zeit. Er
ist auch die dominierende Metapher für das Gehirn
– wir begreifen uns selbst immer mehr als Informationsverarbeitungsmaschinen.
Das digitale Lesen und
Arbeiten gleicht sich immer mehr der Computernutzung
an, er prägt unseren "Stil": kurze Sätze, kurze
Absätze. Lange und komplizierte Worte, komplexe,
"schwierige" Texte – all das, was Kunst, Literatur und
Philosophie charakterisiert – gilt es zu vermeiden.

Die allgemeine Lesegeschwindigkeit beschleunigt
sich immer mehr. Was umständlich oder langweilig
ist oder irrelevant erscheint, wird übersprungen. Untersuchungen
des Onlinelesens zeigen: Das lesende
Auge hüpft immer schneller über den Text, bleibt
immer seltener hängen – und überfliegt im Wortsinne
immer mehr Worte und Zeilen. In einer Studie
der Nielsen Norman Group in den USA wurden die
Augenbewegungen beim Onlinelesen beobachtet. Die
232 Versuchspersonen sollten sich Tausende von sehr
unterschiedlichen Websites ansehen. Sie taten das
auf bemerkenswert gleichförmige Weise, nämlich in
einem Muster, das einem F gleicht:

Die ersten Zeilen eines Webcontents werden horizontal
gelesen und bilden den oberen Querbalken
des F. Danach scrollen die Leser ein wenig weiter,
lesen wieder ein paar Zeilen, allerdings nicht mehr
bis zu deren Ende. Diese Zeilen bilden den unteren
Querbalken des F. Nun prüfen oder scannen die Leser
nur noch den linken Bereich der Webseite, scrollen
dann weiter nach unten – das ist der vertikale
Stamm des F.

Die Entdeckung dieses internettypischen Lesemusters
hatte sofort weitreichende Auswirkungen
auf die Gestaltung von Websites: Das Wichtigste –
die Kernbotschaft, die zentrale Werbeaussage, das
Product-Placement oder die teuerste Bannerwerbung
– wird links oben platziert. Inhalte, die nicht
mindestens den zweiten Horizontalstrich des F schaffen,
fallen der nun folgenden Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit
des Lesens anheim.

Weil alles jederzeit zugänglich ist, gibt es keine Ausrede mehr, wenn man nicht gleich reagiert

Der Internetexperte und Autor Nicholas Carr
schreibt: "Wenn das Netz ein Medium absorbiert,
erschafft es dieses neu – nach seinem Bilde. Es löst
nicht nur dessen physische Form auf, es reichert den
Inhalt des Mediums an mit Hyperlinks, es bricht
dessen Textstruktur auf und zerlegt sie in verschlagwortete
Teilchen, und es umgibt diesen zerlegten Inhalt
mit all dem Inhalt all der anderen Medien, die
es bereits geschluckt hat." Aber diese Anreicherungen
von Texten mit etwas, das irgendwie mit dessen Inhalt
zu tun haben könnte, verändern das Lese- und
Informationsverhalten des Users dramatisch.

Der Vorteil – der neue Reichtum an Kontakten,
Verlinkungen, Zusatzinformationen, also mehr connectivity,
schlägt bald um in einen Nachteil: in Fragmentierung,
disconnectivity. Der Inhalt wird, auch
ein neues Wort der digitalen Welt, granuliert, man
könnte auch sagen: zerbröselt. Die Hypertexte bilden
eine ungeheure Menge von Stoff, der jedoch unverbunden
nebeneinandersteht. Neue Fenster öffnen
sich, eine Kette von Lese- und Schauanreizen drängt
den Leser immer weiter. Diese Angebote fördern ein
"assoziatives Lesen", sprunghaft, im Multitasking-
Modus.

Der Philosoph Mark C. Taylor beklagt in seinem
Buch Speed Limits, dass nicht nur Texte und Inhalte
mehr und mehr fragmentiert würden. Weil die digitalen
Leser immer schneller in ein Labyrinth von
Texten und Links und aufpoppenden Fenstern hineingezogen
würden, blieben auch ihr Bewusstsein
und ihr Textverständnis zerstückelt. Konzentriertes
Lesen und die dazugehörige Reflexion und Einordnung
des Gelesenen fänden kaum noch statt, Lesen
mutiere zu einem Scannen und Hüpfen.

Körper und Seele

Wie wir Zeit überhaupt erleben, welches Verhältnis
zu Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wir entwickeln,
vermittelt sich vor allem über den Körper.
So werden etwa unsere frühkindlichen Befriedigungs-
oder Frustrationserfahrungen und die vorsprachlichen
Gefühle in den Körper eingraviert. Die
Psychoanalytikerin Benigna Gerisch sieht im Körper
die "Leibbühne", auf der die Identitätsbildung symbolisiert
und dargestellt wird. Unverdautes und unbenennbares
seelisches Material – Konflikte, Traumata,
Verletzungen – werde oft durch eine Körpersprache
artikuliert, der Körper fungiert dann als
"Symbol". Das gilt nicht nur für die individuellen
Erfahrungen – "verkörpert" werden auch die dominierenden
gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse
einer Epoche. Die Beschleunigung des Lebens
beeinf lusst also auch das Verhältnis zum eigenen
Körper und verändert dadurch die seelische Innenwelt.

Die neue "Kultur der Unmittelbarkeit und der
Vergleichzeitigung", so beobachtet Gerisch, bediene
den Jetzt-und-sofort-Imperativ des Säuglings, dessen
körperliche Vorgeschichte ja noch in uns steckt. Als
Säugling konnten wir zwischen Augenblick und Dauer
noch nicht differenzieren, das Sofort-haben-Wollen
ist auch im Erwachsenen noch virulent. Dieses
Muster wird nun durch die ständig auf uns einprasselnden
Alles-haben-können-und-zwar-gleich-Angebote
bedient. Sie lassen uns regredieren – das heißt,
wir fallen auf eine frühere Entwicklungsstufe zurück.

Die Bilder- und Informationsfluten der Mediengesellschaft
geben uns keine Zeit mehr zu ihrer psychischen
Verarbeitung. Zu schnell sind die Impulse
der "Erregungsbranche" getaktet, als dass wir sie
einordnen, bedenken, also in biografisch brauchbare
und wiederverwendbare Informationen verwandeln
("mentalisieren") könnten.

Die Folgen dieses missglückenden Verarbeitungsprozesses
sieht Benigna Gerisch darin, dass der Körper
immer häufiger zum Schauplatz eines sprachlosen
Agierens werde: "Das Individuum befindet sich
in der beschleunigten Welt in einem Dauerzustand
von Ãœberflutung durch nicht mehr integrierbare Informations-
und Zeichenüberschüsse einerseits und
Deprivation im Sinne von sich verflüssigenden Bindungen
andererseits." Durch die Indienstnahme des
Körpers versuchten die Menschen, diese Lage zu kompensieren.
Da er in der permanenten Zeitnot "greifbar"
und "real" bleibt, wird er zum Identitätsgaranten.
In einer unüberschaubaren und bedrohlichen
Welt erweist er sich als das einzig verlässliche und
vermeintlich verfügbare Objekt.

In der beschleunigten Welt, die viele Menschen
überwältigt und überfordert, wird der Körper zu einer
Art Gefäß, das Halt und Sicherheit gibt. Und der grassierende
Körperkult und das Körper-"Enhancement"
sind die sichtbarsten Symptome dieser Entwicklung:
Schönheitsoperationen, Anti-Aging-Programme, Diäten-
und Schlankheitswahn. Aber auch Körperpathologien
wie Essstörungen oder selbstverletzendes
Verhalten wie Ritzen oder Selbstverstümmelungen
sind Ausdrucksformen des neuen "Körperkonkretismus"
(Gerisch) und nehmen deutlich zu.

Die Angst, der beschleunigten Welt nicht mehr
gewachsen zu sein, verstärkt die Suche nach Mitteln
der Leistungssteigerung und Selbstoptimierung. Das
sogenannte Neuroenhancement ("Gehirndoping")
ist ein Ausdruck dieser Selbstmobilisierung: Neuroenhancement
ist die mithilfe von Medikamenten wie
Ritalin oder Amphetaminen angestrebte Leistungssteigerung
bei gesunden Menschen. Aufmerksamkeit,
Gedächtnis, Konzentration und andere kognitive
Funktionen des Gehirns können und sollen "verbessert"
werden, nach dem Stand des wissenschaftlich
Möglichen.

Der Medizinkritiker Peter Wehling sieht in diesem
Versuch, das Gehirn sozusagen fortschrittstauglich
und beschleunigungsresistent zu machen, eine fragwürdige
Strategie. Ihr liege ein Denkfehler zugrunde:
Traditionelle Mittel der Leistungssteigerung wie Lernen,
Gedächtnisschulung, Meditation, Askese oder
Konzentrationsübungen werden umstandslos mit den
neuen pharmakologischen Techniken gleichgesetzt.

Selbstverlust und Beziehungsverlust

Zeitdruck, Zeitmangel und Zeitnot wirken sich direkt
auf unser Seelenleben aus. Wir kommen buchstäblich
nicht mehr zu uns. Das Lebensgefühl, sehr
häufig "neben sich" zu stehen, ist weit verbreitet. Dazu
trägt auch bei, dass wir aus Ungeduld oder aus
Zeitnot seelische Wachstums- und Reifungsprozesse
und alle Erfahrungen, die auf Dauer gründen, möglichst verkürzen wollen. So bleibt das Selbst auf
oft unbegriffene Weise unterentwickelt und undifferenziert.

Es gibt offenbar einen engen Zusammenhang zwischen
der Beschleunigung und einer wachsenden
Entfremdung – also dem Gefühl, längst nicht mehr
das zu tun und der zu sein, was man eigentlich tun
und wer man sein wollte. Häufig springen wir ins
"Halbbekannte", wir gehen uninformiert, flüchtig,
gehetzt an Dinge heran, die meisten wollen wir eigentlich
gar nicht tun, und wenn wir sie getan haben,
sind sie nie wirklich abgeschlossen, wir haben oft
nur halb gelesen, provisorisch etwas repariert und
so weiter. Wir sind immer seltener "bei uns selbst".

Und wir sind auch weniger bei anderen: Keine
Zeit mehr für die Entwicklung und Pflege von tiefer
Vertrautheit, von Freundschaften und Partnerschaften.
Von dauerhaften Gefühlen gehen wir über zu
flüchtigen Beziehungen: Kurzlebige, oft zweckorientierte
und oberf lächliche Kontakte sind im Arbeitsleben
wichtig, und sie prägen mehr und mehr
auch die privaten Beziehungen. Das Speeddating und
der digitale Partnermarkt sind deutliche Zeichen dafür,
dass die Beschleunigung auch unser Liebesleben
im Griff hat.

Auf der Suche nach der verschwindenden Zeit

Die meisten Rezepte gegen die Beschleunigung – oder
zumindest gegen deren schlimmste Auswirkungen –
sind wohlbekannt. Sie laufen in der Regel darauf hinaus,
das ansteigende gesellschaftliche Tempo durch
individuelle Entschleunigungsprogramme erträglich
zu gestalten. Eine Flut von Büchern beschwört die
Notwendigkeit der Verlangsamung und die Wohltaten
der Muße. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit
wird umso lauter ausgerufen, je deutlicher die
Auswirkungen der Geschwindigkeit erkennbar sind.
Durch Lifestyle-Bewegungen wie Slow Food, durch
die Selbstimmunisierung gegen Stress und Burnout
in Wellness-Oasen, Yoga- oder Meditationskursen
versucht der Einzelne, der Beschleunigung wenigstens
auf Zeit zu entkommen.

Doch die vermeintlichen Aus- oder Eigenzeiten
sind längst "kontaminiert": Die neuen Medien ermöglichen
eine permanente Grenzüberschreitung
zwischen Arbeit und Freizeit und zwischen unterschiedlichsten
Lebensbereichen: Beim gemütlichen
Treff abends mit Freunden mal schnell aufs Smartphone
geguckt, und schon ist man, je nach Dringlichkeit
einer Nachricht oder ihrer emotionalen Brisanz,
ganz woanders. Vom Laptop-Mitnehmen in
den Urlaub oder der permanenten Erreichbarkeit
durch die Firma ganz zu schweigen.

Wo finden wir wirklich Hilfe? Vielleicht weniger
in den neuesten Zeitsparmodellen und Organisationstricks
als in eher philosophischen, grundsätzlichen
Ãœberlegungen.

Der Philosoph Odo Marquard glaubt, dass wir im
Grunde immer ein "temporales Doppelleben" führen,
in dem wir die wachsende Schnelligkeit durch
Langsamkeiten aller Art kompensieren. Das Bewusstsein
für die Kürze unseres Lebens forciere auf der
einen Seite die Schnelligkeit – wir wollen in der uns
gegebenen Spanne möglichst viel möglichst schnell
erreichen und erfinden deshalb immer neue Beschleuniger.
Wir sind "zukunftshungrige Eiler", weil
Zeitmangel unsere menschliche Primärerfahrung
ist – nur wer nicht weiß, dass er sterben muss, hat es
nicht eilig. Auf der anderen Seite jedoch drängt uns
dasselbe Wissen um die Endlichkeit dazu, "herkunftsdominierte
Zögerer" zu sein. Wir versuchen,
langsam zu leben, die Zeit an- oder aufzuhalten.

Im Grunde sind alle menschlichen Institutionen
dazu da, das Leben auf Dauer zu stellen: Verwaltungen
und Verbände, Vereine, Parteien, Gewerkschaften,
Familien und Gruppen aller Art – sie sind natürliche
"Verlangsamer" (siehe auch Heft 6/2015:
Gemeinsam glücklich). Weil sie Traditionen und Riten
pflegen, weil sie auf Grundsätze und Werte achten
und weil sie schon allein durch ihre Gewohnheiten
und Verfahrensweisen das Tempo der Einzelnen
bremsen. Außerdem nehmen sie die Geschwindigkeit
aus den Dringlichkeiten der Politik und den Innovationszwängen
der Wirtschaft heraus. Dafür werden
sie oft als Bremsklötze, als fortschrittsfeindlich, unmodern
und so weiter gescholten. Manchmal zu
Recht, oft zu Unrecht.

In der Kultur, in ihrer Bewahrung und Pflege liegt
also die wahre entschleunigende Kraft. Und in den
Gemeinschaften, in der Kommunikation, im Miteinander:
Andere können uns zwar mitunter Zeit stehlen.
Aber sehr viel häufiger können wir mit anderen
unsere knappe Lebenszeit vermehren. Denn geteilte
Zeit ist vielfache Zeit. Odo Marquard nennt es "mitmenschliche
Multitemporalität". Mit ihr lässt sich
selbst die Beschleunigung aushalten. PH

Heiko Ernst ist Diplompsychologe und Publizist. Er war von
1979 bis 2014 Chefredakteur der Zeitschrift Psychologie
Heute.

Für Interessierte

Angaben zur zitierten Literatur im Internet unter www.psychologie-heute.de/literatur


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