Psychologie : Generation Kriegskind

Es ist der Abend vor dem ersten Irakkrieg. In den Supermärkten einiger Großstädte sind alle Grundnahrungsmittel ausverkauft – Hamsterkäufe. Einige Tage später kommen viele ältere Menschen in die Ambulanz zu Gereon Heuft, Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster. Sie klagen über Schmerzen, Atemnot und Ängste. Als Heuft sie darauf anspricht, erzählen sie plötzlich von Erinnerungen und Ängsten aus dem Zweiten Weltkrieg.

Es ist das erste Mal, dass Heuft mit der Traumareaktivierung in Berührung kommt. „Etwas taucht auf und stößt die Erinnerungen in aller Intensität an“, erklärt Hartmut Radebold, Psychotherapeut und Psychoanalytiker aus Kassel. Auslöser, sogenannte Trigger, können Geräusche, Gerüche, ein Feuerwerk oder eine bestimmte Sprache sein.

Auch ein neues Trauma durch einen Unfall beispielsweise kann alte Belastungen wieder an die Oberfläche bringen. Den meisten Älteren ist bei ihren Ängsten und Gefühlen nicht einmal klar, dass es um Belastungen aus ihrer Kriegskindheit geht.

Im Jahr 1945 waren 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis 16 Jahre schwerst belastet. Auch wenn sie nicht selbst im Krieg waren, haben sie den Beschuss erlebt, wurden Zeuge von Vergewaltigungen, mussten fliehen oder waren verschüttet.

Geredet wurde über die Erlebnisse nach dem Krieg nicht. Radebold geht davon aus, dass 80 Prozent der Betroffenen geschwiegen haben. Ilka Quindeau, Psychologin an der FH Frankfurt, beschreibt die damaligen Erziehungsmethoden in Deutschland folgendermaßen: „Als Ideal galt, jegliche empathische Zugewandtheit zu vermeiden.“ Mitgefühl von den Eltern gab es keines.

Es gibt aber noch andere Ursachen, die die Kriegserinnerungen wieder aktivieren. Sowohl Heuft als auch Radebold haben in der Praxis festgestellt, dass Ältere aktiv über viele Erlebnisse nachdenken. Im Alter hat man mehr Zeit, sich mit der Vergangenheit zu befassen. Laut einer von ihr erstellten Studie konnte Ilka Quindeau keinen klinischen Befund für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) feststellen – auch wenn Betroffene einzelne Symptome zeigen würden.

Die Psychologin geht auf Grundlage einer weiteren Leipziger Studie davon aus, dass 15 bis 18 Prozent der Kriegskinder unter Trauerfolgestörungen leiden, 5 bis 8 Prozent leiden unter PTBS.

Die Traumareaktivierungen und Belastungen lassen sich gut behandeln – auch ohne professionelle Hilfe. Auf keinen Fall dürften Betroffene gezwungen oder gedrängt werden, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, warnt Heuft.

Bemerken Angehörige, dass Eltern oder Großeltern alte Erinnerungen belasten, sollten sie darauf eingehen und sie behutsam nach der Zeit fragen. „Vor allem Jüngere sollten sich trauen und fragen: ,Was hast du erlebt, was ist dir passiert?’“, rät Hartmut Radebold.

Alternativ können Betroffene mit ihrem Hausarzt sprechen. An vielen Orten stehen auch Gesprächsgruppen für Kriegskinder zur Verfügung.

Experten halten es für sinnvoll, die eigene Geschichte aufzuschreiben – entweder in einer Schreibwerkstatt oder alleine. „In einer professionellen Beratung können Betroffene abklären: Was brauche ich noch? Was kann mir helfen?“, sagt Radebold. Dafür kommen Beratungsstellen oder Psychotherapeuten infrage.

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