Friktionsfrei sind Beziehungen zwischen Geschwistern nicht immer, schon das Alte Testament wusste es. Aber lag der Mord an Abel wirklich am aufbrausenden Temperament seines älteren Bruders Kain, und brauste das, weil er der Ältere war? Erstmal wissenschaftlich thematisiert hat die Bedeutung des Platzes in der Geschwisterfolge 1874 Francis Galton, neuntes Kind seiner Familie: Ihm fiel auf, dass unter britischen Gelehrten die Erstgeborenen stark überrepräsentiert waren, er führte es auf besondere Hege der Eltern zurück.
50 Jahre später griff der Tiefenpsychologe Alfred Adler, ein Zweitgeborener, das Thema wieder auf, auch er betonte die Privilegien Erstgeborener, thematisierte aber auch Schattenseiten: Die Ersten trügen große Erwartungen auf ihren Schultern und seien von der Furcht der „Entthronung“ durch Nachgeborene geplagt, das schlage aufs Gemüt und bringe den Charakterzug, den die Psychologie später „Neurotizismus“ nannte. Das meint eine emotionale Verletzlichkeit und Labilität, die gern durch rigides Denken und Verhalten kompensiert wird. Dieser Neurotizismus gehört zu den „Big Five“, mit denen Persönlichkeiten umschrieben werden, zu ihnen zählen Extraversion, Offenheit für Neues, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit.
Um die „Big Five“ herum konstruierte Frank Sulloway 1996 im nächsten Anlauf seine Theorie der „familiären Nischen“: Jeder Rang in der Geburtsfolge biete eine spezielle Nische und forme eigene Charaktere, Sulloway verglich es mit den Darwin-Finken, deren Schnäbel an ökologische Bedingungen angepasst sind. Das war hoch umstritten, außer in einem Punkt, der bestätigte sich oft: Erstgeborene haben – im Durchschnitt natürlich – eine höhere Intelligenz, sie sinkt von Nachgeborenen zu Nachgeborenen, es ist völlig unklar warum, es gibt nur Hypothesen sonder Zahl.
Dieser Effekt bestätigte sich nun in der Auswertung von drei großen Langzeit-Statistiken – aus den USA, Großbritannien und Deutschland – durch Stefan Schmuckle (Uni Leipzig) (Pnas 19. 10.): Die Stellung in der Geburtenreihe hat einen Einfluss auf die Intelligenz – einen geringen, aber doch im IQ messbaren –, ansonsten prägt er Persönlichkeiten nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2015)