Psychologie: "Empathie blendet uns"

DIE ZEIT:
Professor Bloom, Sie erforschen den Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl. Was war
Ihre erste Reaktion, als Sie von den Anschlägen in Paris hörten – Empathie oder
Mitgefühl?

Paul Bloom:
Ich glaube, mir ging es ähnlich wie vielen Menschen: Man wird automatisch von allen
möglichen Gefühlen überschwemmt, Schrecken, Angst, Wut, Besorgnis und Mitgefühl mit den
Opfern. Wir Amerikaner wissen ja, wie man sich in einer solchen Situation fühlt. Aber weil
ich mich als Psychologe auch berufsmäßig mit diesen Gefühlen befasse, bin ich zugleich
innerlich einen Schritt zurückgetreten und habe mir überlegt, welche Gefühle wirklich
hilfreich sind in dieser Situation.

ZEIT:
Viele würden sagen: Wir brauchen jetzt vor allem Empathie! Vordenker wie Jeremy Rifkin
fordern gar ganz allgemein eine "empathische Zivilisation". Sie halten das für falsch.
Warum?

ist Professor für Psychologie an der Yale University in den Vereinigten Staaten.

Bloom:
Weil Empathie auch ihre Schattenseiten hat. Der empathische Reflex verführt leicht dazu,
auf falsche Weise zu reagieren. Wir führen dazu gerade eine Studie durch. Die ersten
Ergebnisse deuten darauf hin, dass Empathie rachsüchtiger macht. Wenn Menschen von
Straftaten wie sexuellen Übergriffen hören, versetzen sich einige von ihnen besonders stark
in das Opfer hinein. In unserem Experiment zeigt sich, dass diese besonders empathischen
Probanden wollen, dass der Schuldige zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wird – und
dass er leidet. Solche Rachegefühle, die aus Empathie für die Opfer entstehen, können zu
Vergeltungsschlägen verleiten, die niemandem helfen.

ZEIT:
Empathie hat also in der Politik nichts zu suchen?

Bloom:
Ich bin kein Experte für Sicherheitspolitik oder Terrorbekämpfung. Aber ich weise darauf
hin, dass wir aufpassen müssen, uns nicht von empathischen Reflexen gefangen nehmen zu
lassen. Wenn Politiker einen Krieg beginnen, appellieren sie ja häufig an unsere Empathie.
Sie erzählen uns vom Leid der Einwohner des Landes, in das sie einmarschieren wollen. Wir
sehen die Bilder einzelner Opfer. Und wir tendieren dazu, die wichtigen Fragen zu
ignorieren: Wie viele Menschen werden sterben müssen, wenn wir tatsächlich gewaltsam in die
Geschicke dieses anderen Landes eingreifen? Empathie blendet uns.

ZEIT:
Gilt das auch in der Flüchtlingsfrage? Sollten wir denn keine Empathie mit Flüchtlingen
empfinden?

Bloom:
Meine persönliche Überzeugung ist, dass die Staatengemeinschaft eine starke Verpflichtung
hat, flüchtenden Menschen zu helfen. Aber wenn man sich dabei nur von Empathie leiten lässt,
wird das nicht sehr hilfreich sein. Die empathische Einfühlung motiviert uns nämlich dazu,
eher den Menschen zu helfen, die uns ähneln, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Menschen, die anders sind als wir, die eine andere Hautfarbe haben oder aus einer anderen
Kultur stammen, ignorieren wir eher. Das heißt: Empathie kann uns parteiisch, ja sogar
fanatisch machen. Deshalb warne ich vor zu viel Empathie und plädiere für mehr
compassion,
also Mitgefühl.

ZEIT:
Worin besteht der Unterschied?

Bloom:
Empathie heißt: Ich fühle das, was ein anderer Mensch fühlt. Mitgefühl bedeutet: Ich
kümmere mich um den anderen, ich sorge für ihn.


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Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 49 vom 03.12.2015.

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Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 49 vom 03.12.2015.

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ZEIT:
Das hängt doch zusammen. Lassen sich Empathie und Mitleid tatsächlich voneinander
trennen?

Bloom:
Zugegeben, außerhalb des Labors vermischt sich das oft. Trotzdem halte ich die beiden
Emotionen für unterschiedlich und unabhängig voneinander. Mit Fragebögen und bildgebenden
Verfahren ist es auch durchaus möglich, zwischen den beiden Gefühlen zu unterscheiden.

ZEIT:
Wie zum Beispiel?

Bloom:
Wir zeigen Probanden etwa Bilder, auf denen zu sehen ist, wie jemand mit einem scharfen
Gegenstand in den Finger gestochen wird. Während sie dieses Bild betrachten, leuchtet das
Schmerzzentrum in ihrem Gehirn auf. Sie empfinden den Schmerz des anderen buchstäblich im
eigenen Nervensystem nach. Dieses Einfühlen bezeichnen wir als Empathie. Und die wird eben
nicht nur bei körperlichen Verletzungen aktiviert. Jemand, der wegen einer Scheidung sehr
gelitten hat, kann den Kummer eines anderen Geschiedenen nachfühlen. Mitleid dagegen basiert
weniger auf eigenen Erfahrungen. Vielmehr sehen wir eine Person in Not und haben das
Bedürfnis, zu helfen. So hegen wir etwa Mitleid für misshandelte Tiere – auch ohne ihren
Schmerz wirklich nachempfinden zu können.

ZEIT:
Das heißt: Bei der Empathie leide ich selbst mit, beim Mitgefühl bin ich innerlich freier,
kann klarer sehen?

Bloom:
Exakt. Deshalb trifft man moralische Entscheidungen besser mit Mitleid als mit
Empathie.

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