Raymond Paloutzian lacht auf einem Foto. Der emeritierte Professor für Psychologie hat bis zum Jahr 2007 an der Stanford University, dem Westmont College und der Universität Leuven in Belgien Vorlesungen gehalten – und oft ging es dabei um das Thema Vergebung und Versöhnung.
Dass dies kein Zufall ist und der fröhlich blickende Mann nicht immer lachen konnte, zeigt erst ein Blick in sein zwei Jahre später erschienenes Buch.
"Eine der größten Herausforderungen, denen man begegnen kann, ist es, denen zu vergeben, die deine Liebsten getötet haben", schreibt er. "In einer solchen Situation ist der Schmerz so groß und die Verletzung so tief, dass es dir das Messer noch tiefer in die Brust bohrt, wenn dir jemand sagt, du solltest vergeben."
Paloutzian spricht von sich selbst. Er musste als 20-Jähriger mit ansehen, wie seine Schwester durch ihren eigenen Ehemann erschossen und sein Vater schwer verletzt wurde. Damals habe Vergeben in seinem Wertesystem bereits eine große Rolle gespielt, sagt Paloutzian.
Doch nach dem Vorfall sah er sich außerstande, starke Rachegefühle aus seinem Kopf zu verbannen. Und so verordnete er sich das Vergeben der Tat selbst – sozusagen als Lebensaufgabe.
"Ich glaubte, dass jeder Mensch alles erreichen kann, was er sich vornimmt, solange er nur hart genug dafür arbeitet", schreibt der Forscher, "denn jeder ist in der Lage, seine eigenen gedanklichen und emotionalen Reaktionen zu beeinflussen und somit zu kontrollieren."
Zwei verschiedene Arten des Vergebens
Auch wenn das nach einer solchen Erfahrung fast unmenschlich anmutet: Seine Kollegen geben ihm recht. Die meisten Wissenschaftler unterscheiden inzwischen zwei verschiedene Arten des Vergebens: das "entscheidungsbasierte" und das "emotionsbasierte Vergeben". Am Anfang steht wie bei Paloutzian häufig der Entschluss, dass sich etwas ändern muss.
Weil das innere Leiden, das Grübeln, die Feindseligkeit, Wut, Trauer und Rachegelüste tagtäglich das eigene Leben bestimmen. "Beim entscheidungsbasierten Vergeben geht es um das Bedürfnis nach Rationalität, also zu verstehen, warum man verletzt wurde", sagt Sonja Fücker, Soziologin an der Freien Universität Berlin.
"Dafür muss man sich ein Stück in das Gegenüber einfühlen können." Ob und wie schnell das gelingen kann, sei natürlich abhängig davon, was zwischen zwei Menschen vorgefallen sei. Paloutzians Geschichte ist da glücklicherweise eher eine Rarität.
Schweizer Forscher konnten zeigen, dass Männer und Frauen am häufigsten mit Betrug, Seitensprüngen oder dem Verlassenwerden in Beziehungen zu kämpfen haben – insbesondere die jüngeren Studienteilnehmer. Bei den Älteren spielten diese Vergehen zwar auch eine Rolle, doch in fast gleichem Ausmaß schlugen sie sich mit Mobbing, Bedrohungen und unfairer Behandlung am Arbeitsplatz herum.
Kränkungen wirken sehr lange nach
Dabei war bei mehr als der Hälfte der Befragten das selbst gewählte Vergehen, um das es ging, bereits mehrere Jahre her. Kränkungen brauchen Zeit, bis sie überwunden werden. "Je mehr Zeit seit der Verletzung vergangen ist, desto höher ist die Bereitschaft zu vergeben", erklärt Fücker.
Vielleicht fällt es Älteren deswegen leichter zu vergeben, wie mehrere Studien zeigen, unter anderem auch Fückers eigene. "Ältere Menschen haben größere Angst davor, eine wichtige Beziehung zu verlieren", sagt die Soziologin. "Sie verwenden deshalb weniger Energie darauf, sich zu grämen, und mehr Energie darauf, eine Beziehung am Leben zu halten."
Andere Studien belegen, dass ältere Menschen nicht nur motivierter sind zu vergeben, sondern durch ihre Erfahrung auch besser mit negativen Gefühlen wie Wut und Trauer umgehen können als Jüngere.
Und auch das Geschlecht entscheidet mit darüber, welche Vergehen als sehr belastend empfunden werden und welche weniger. Männer litten in der Studie mehr unter Ungerechtigkeiten im Arbeitsleben, während Frauen Verletzungen in Beziehungen schwerer verkraften konnten. Allgemein, so Fücker, seien sich die meisten Menschen aber einig darüber, welche Dinge moralisch verwerflich sind.
Frauen fällt Vergeben schwerer
"Wie aber damit umgegangen wird, wenn es einem selbst passiert, das ist sehr unterschiedlich", sagt sie. Die höchste Bereitschaft, das Vergehen eigenhändig zu rächen, zeigen der Schweizer Erhebung zufolge junge Männer – jene im mittleren und höheren Alter werden dagegen sanftmütiger.
Bei den Frauen hatte das Alter überhaupt keinen Einfluss auf die Bereitschaft zur Vergeltung, dafür fiel ihnen das Vergeben aber schwerer als Männern.
Dass dies kein zufälliger Befund ist, zeigt eine weitere Studie italienischer Psychologen. Sie erfassten die Gehirnaktivität von Versuchspersonen, die an eine erfahrene Verletzung dachten. Dabei leuchtete im Scanner der Anteriore Cinguläre Cortex (ACC) auf, ein Areal, das unter anderem auf physischen und psychischen Schmerz reagiert. Diese Gehirnregion wurde bei Frauen deutlich stärker aktiviert als bei Männern. Eine Erklärung dafür steht bisher noch aus
Die geringste Aktivität im ACC zeigte sich hingegen bei jenen, die sich intensiv bemühten, das Geschehene zu verzeihen. Nach Ansicht vieler Forscher sind dabei der erste Schritt und die Voraussetzung für das Vergeben, sich in das Gegenüber einzufühlen.
Empathie ist wiederum in anderen Studien ebenfalls mit dem ACC in Verbindung gebracht worden. Nach und nach entwickelt sich eine neue Perspektive auf das Geschehene – und damit verändern sich auch die Gefühle.
Rachegefühle schwächen ab
Die Rachegedanken, um die sich gerade kurz nach einer Verletzung viel dreht, werden seltener. Gleichzeitig wird der Verursacher des Leides weniger intensiv gemieden oder aktiv aufgesucht.
Und manchmal gelingt es sogar, dem anderen mit Wohlwollen gegenüberzutreten oder eine zerstörte Beziehung wieder aufzunehmen. Dann hat sich das entscheidungsbasierte Vergeben in ein emotionsbasiertes gewandelt.
Ob vergeben wird und was aus einer Vergebung folgt, ist aber sehr unterschiedlich. Sonja Fücker sagt, es spiele eine große Rolle, wie wichtig einem die Beziehung an sich ist, und wie viel man dafür bereit ist zu tun.
"Die Schuld bleibt bestehen", sagt die Soziologin. "Wenn jemand eine Tat vergibt, dann beginnt man in einer Beziehung sozusagen von vorn – das Geschehene ist deswegen aber noch lange nicht vergessen."
Eine jüngst veröffentlichte Studie der Psychologin Tanja Gerlach von der Humboldt-Universität Berlin konnte außerdem zeigen, dass es manchen Menschen grundsätzlich leichter fällt als anderen, moralische Vergehen zu verzeihen: jene, die auf jede Form von sozialer Ungerechtigkeit nicht allzu empfindlich reagieren.
Vergeben hilft der Gesundheit
Wer verzeihen kann, hat viel davon: Das psychische Befinden verbessert sich, körperliche Beschwerden werden seltener und Herzschlag und Blutdruck bleiben auf einem gesundes Niveau.
Doch wie viele Menschen braucht es eigentlich zum Vergeben? "Das ist sehr unterschiedlich", erklärt Sonja Fücker. "Es gibt Menschen, die das mit sich allein ausmachen, aber es gibt auch Menschen, für die das ohne eine Auseinandersetzung mit demjenigen, der das Leid verursacht hat, nicht möglich ist." Reue, die Bitte um Entschuldigung oder eine gerichtliche Verurteilung können zwar helfen, den entscheidenden Schritt aber nicht ersetzen.
Raymond Paloutzian hat mit dem Mörder seiner Schwester nie wieder gesprochen – er hat alles mit sich allein ausgemacht. "Es hat 17 Jahre gedauert um diesen Konflikt in meinem Herzen ruhen zu lassen", schreibt er. "Ich habe gelernt, dass ein Versuch zu verzeihen immer nur vorläufig ist – und das Ergebnis ungewiss."