Psychologie: "Die Fassade bricht"

Das Hamburger Bürgertum sei reserviert bis zu Selbstkasteiung. Was ist dran an diesem Vorurteil? Ein Gespräch mit der Psychotherapeutin Sabine Wery von Limont von Hanna Grabbe

Hamburg-Harvestehude  |  © dpa

DIE ZEIT:
Frau Wery von Limont, in keiner Stadt soll es so viele psychisch Kranke geben wie in
Hamburg, der angeblich "schönsten" und reichsten Stadt Deutschlands". Wie kann das sein?

Sabine Wery von Limont:
Es liegt an der Kälte. Und ich meine jetzt nicht das Wetter, sondern die menschliche Kühle.
Die Hamburger sagen ja immer von sich, dass sie sehr herzlich sein können, aber was ich in
meiner täglichen Arbeit als Psychotherapeutin erlebe, ist eine unglaubliche Kälte
menschlicher Beziehungen, sowohl in den Familien als auch am Arbeitsmarkt. Viele Hamburger
sind sehr reich, aber sie haben eine traurige Seele, ein krankes Herz.

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ZEIT:
Worunter leiden sie?

Wery von Limont:
Die Menschen, die zu mir kommen, haben Angst. Angst, den Status zu verlieren, im Alter
nicht mehr leistungsfähig genug zu sein, die Familie nicht mehr versorgen zu können. Und sie
versuchen krampfhaft, dagegenzuhalten, noch mehr zu arbeiten, noch mehr zu leisten. Sie
bauen sich eine schöne Fassade auf, aber irgendwann bricht die zusammen. Erst kommt die
Angst, dann die Depression. Dieses Fassadenhafte ist vor allem in Hamburg sehr
ausgeprägt.

ZEIT:
Ist die Erklärung nicht vielmehr, dass es in Hamburg einfach mehr Psychologen pro Einwohner
gibt als beispielsweise in Sachsen-Anhalt?

Wery von Limont:
Klar, das hat einen gewissen Einfluss, aber eher weil der Bedarf so hoch ist. Trotzdem hat
Hamburg mit dem Hafen eine besondere Situation. In der Schifffahrt konnte man lange sehr
viel Geld verdienen. Mit der Krise ist vieles eingebrochen, da schließen Maklerhäuser oder
fusionieren, Reedereien gehen pleite, und Banken entlassen Personal. Viele in der Schiffs-
und Bankenbranche haben sich zu lange auf ihr dickes Bankkonto verlassen und auf Zeit
gespielt, in der Hoffnung, dass es besser wird. Psychisch betrachtet, ist Geld aber nur ein
Baustein des Selbstwertgefühls unter anderen. Wenn das Geld in Gefahr ist, glauben die
Leute, nichts mehr zu sein.

ZEIT:
Und dann sitzen diese Banker und Reeder bei Ihnen im Sessel?

Wery von Limont:
Manche. Die meisten können aufgrund ihrer Position eine psychische Erkrankung nicht nach
außen tragen. Wenn die bei mir sitzen und ich sage: "Sie brauchen mir von der Branche nichts
zu erzählen, ich bin da mit einigen gut bekannt und weiß Bescheid", dann kriegen die einen
Schock, weil sie denken: "O Gott, jetzt geht das rum, dass ich bei ’ner Therapeutin hocke.
Wenn das rauskommt bin ich durch, gebrandmarkt." Das sind unrealistische Befürchtungen,
natürlich dringt nichts nach außen.

ZEIT:
Warum diese Angst?

Wery von Limont:
Es ist ein Geschäft, das auf Seriosität beruht, es geht um viel Geld. Eine psychische
Krankheit zu haben heißt für viele, nicht mehr seriös zu sein. Deshalb werden zuerst andere
Wege gesucht, Alkohol zum Beispiel. Als man in guten Zeiten in der Schifffahrt essen ging,
ging man nicht selten mit einem Pegel von eins Komma noch was nach Hause, sonst war es kein
schöner Abend. Dann konnten diese hanseatischen Fassaden mal fallen. Wenn alle dicht sind,
merkt es keiner. Aber am nächsten Morgen baut man die Fassade sofort wieder auf. Der Alkohol
gibt einem die Erlaubnis, sich einmal so zu verhalten, wie man ist. Ich habe früher auf der
Suchtstation im UKE gearbeitet, ich weiß, wovon ich rede.

ZEIT:
Dann müssten ja fast alle in der Branche ein Alkoholproblem haben ...

Wery von Limont:
Das nicht, es gibt noch andere Möglichkeiten, auszuweichen: körperliche Leiden, vor allem
Rückenschmerzen und Herzprobleme. Ich glaube, die Menschen in dieser Stadt sind besonders
anfällig für solche Krankheiten, weil Angst und Depression inakzeptabel sind. Da rennen sie
lieber von einem Kardiologen zum andern. Und kein Arzt findet so richtig was. Es dauert eine
Weile, bis sie zu mir kommen, und dann sagen sie immer noch: Aber ich hab doch
Herzprobleme.

arbeitet als psychologische Psychotherapeutin. Sie wurde 1957 in Hamburg geboren, wo sie Wirtschaft und Psychologie studierte. Sie hat sich auf Psychokardiologie spezialisiert.

ZEIT:
Wie hängen Herz und Psyche zusammen?

Wery von Limont:
Seit der Schifffahrtskrise ist in Hamburg der Teufel los. Mitarbeiter in Banken,
Reedereien, Fonds- und Maklerhäusern rotieren, um möglichst schadlos durch diese unheilvolle
Zeit zu kommen. In der Schifffahrt wird immer von sieben fetten und sieben mageren Jahren
gesprochen. Aber die sieben mageren werden dieses mal nicht ausreichen, und so sind der
Erfolgsdruck und die Verantwortung auf jeden Einzelnen in der gesamten Schiffsbranche immer
größer geworden. Viele stellen fest, dass sie dem Druck schon lange nicht mehr standhalten
können. Körperliche Erkrankungen häufen sich, die haben aber eine psychische Ursache.
Kardiologen und Internisten schicken mir Patienten, und immer öfter stelle ich fest, dass
sie aus der Schiffsbranche kommen. Manche achten aus Angst davor, ihren Job zu verlieren,
nicht auf die körperlichen und psychischen Anzeichen. Häufig endet das dramatisch, zum
Beispiel mit Herzinfarkten, Krankenhausaufenthalten und langen Fehlzeiten. Ich wünschte,
diese Patienten wären früher zu mir gekommen, um Herz
und
Seele behandeln zu
lassen.

ZEIT:
Wie helfen Sie?

Wery von Limont:
In der Therapie muss der Patient ein Verständnis dafür entwickeln, dass er gegen die Krise
einfach nichts tun kann. Er muss, entsprechend seinen Bedürfnissen, Alternativen entwickeln,
und das ist nicht leicht.

ZEIT:
Was heißt das konkret?

Wery von Limont:
Ein Patient müsste sich fragen, was Lebensqualität eigentlich heißt. Vielleicht waren das
bisher der Skiurlaub in St. Moritz und die Sommerferien in der Karibik. Aber vielleicht ist
ja auch Wandern im Harz ganz schön. Das Dilemma ist, dass die Schifffahrt so ein
High-Class-Ding ist. Golf spielen, segeln und toller Urlaub gehören als Status-Muss einfach
dazu. Wer in den Harz fährt, darf nicht mehr mitspielen. Der ist draußen. Das ist ein
unglaublicher Druck, und keiner traut sich, drüber zu reden, als müsste selbst die Psyche
ein Clubsakko mit weißem Hemd und gestreifter Krawatte anhaben. Aber wie es dahinter
aussieht, geht keinen was an.

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