Psychologie : Der wundersame Wandel über 70

Psychologie Der wundersame Wandel über 70

Die Persönlichkeit von Menschen kann sich im Laufe des Lebens grundlegend ändern. Besonders oft geschieht das im Alter

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01.10.14, 02:50

Psychologie

Die Persönlichkeit von Menschen kann sich im Laufe des Lebens grundlegend ändern. Besonders oft geschieht das im Alter

Von
Wiebke Hollersen

Zu den Sätzen, die in Familien oft gesagt werden, meist mit eher resigniertem Unterton, gehören solche: Menschen ändern sich nicht, schon gar nicht im Alter von Opa. Es geht dann meist um die Persönlichkeit. Solche Sätze, sagt Jule Specht, entsprachen bisher durchaus dem Stand der Forschung. "Man hat gesehen, dass sich Persönlichkeitsmerkmale im Laufe eines Lebens verfestigen. Im Alter von 30 oder 50 Jahren hat man dann meist aufgehört, weiterzuforschen."

Jule Specht ist Psychologin an der Freien Universität Berlin – und hat weitergeforscht. Dabei fand sie heraus, dass sich Menschen sogar ziemlich häufig noch einmal stark verändern – wenn sie um die 70 sind. Jeder vierte Mensch nimmt in diesem Alter noch einmal ganz andere Persönlichkeitszüge an. Von vier Großeltern wäre das, statistisch betrachtet, schon einer.

Specht hat mit ihren Kollegen Maike Luhmann und Christian Geiser die Daten aus zwei großen Bevölkerungsstudien in Deutschland und Australien ausgewertet. Die deutschen Daten stammen aus dem "Sozio-ökonomischen Panel", einer Langzeitstudie, für die seit 1984 in jedem Jahr tausende Menschen befragt werden. Weil es stets dieselben Menschen sind, sind die Daten ein Schatz für Psychologen, die Lebensläufe und Muster untersuchen.

Mit 30 stabilisiert sich der Mensch

Specht und ihre Kollegen haben Material aus den Jahren 2005 bis 2009 ausgewertet, mehr als 23.000 Menschen gaben im Lauf dieser vier Jahre in beiden Ländern regelmäßig Auskunft – auch über ihre Charaktereigenschaften. Die Teilnehmer waren zwischen 16 und 82 Jahren alt und sollten sich in den Persönlichkeitsmerkmalen einschätzen, die Psychologen als die "Big Five" bezeichnen: emotionale Stabilität, Offenheit für Neues, Verträglichkeit im Umgang mit anderen, Gewissenhaftigkeit und der Grad an Intro- oder Extraversion, also die Neigung, sich zurückzuziehen oder nach außen zu gehen.

Psychologen bestimmen aus diesen Eigenschaften den Persönlichkeitstyp. Jule Specht und ihre Kollegen fanden erwartungsgemäß vor allem drei Typen. Die meisten Menschen gehören entweder dem "unterkontrollierten", dem "resilienten" oder dem "überkontrollierten" Persönlichkeitstyp an. Resiliente Menschen sind jene, die im Alltag meist am besten funktionieren, das Wort bedeutet robust oder widerstandsfähig. Diese Menschen ruhen in sich selbst, sie sind leistungsfähig und leiden selten an psychischen Problemen. Etwa die Hälfte der 30-Jährigen in Deutschland, sagt Specht, zählt zu diesem Typ.

Viele von ihnen, vor allem jüngere Männer, waren in ihrer Jugend noch "unterkontrolliert". Diese Menschen sind eher impulsiv und stur, sie halten sich nicht gern an Regeln und erledigen Dinge nicht so gewissenhaft. "Viele von diesen jungen Menschen stabilisieren sich um den 30. Geburtstag herum", fand Specht in den Daten. Diese Reifung könne biologisch bedingt sein, oder am schnöden Alltag liegen – wer im Job funktionieren muss, der lernt, Regeln einzuhalten.

"Überkontrollierte" Menschen legen ihre Eigenschaften beim Erwachsenwerden seltener ab, sie bleiben emotional empfindlich, reagieren feinfühlig, sie sind eher nervös und im Umgang mit anderen Menschen besonders zuverlässig. Erwachsene Männer und Frauen gehören zu etwa gleichen Teilen den verschiedenen Persönlichkeitstypen an. Und so bleiben sie, wenn sie über 30 sind, meist eine ganze Weile.

Einfluss der Umwelt geht zurück

Bei den Menschen im mittleren Lebensalter, stellte Specht fest, "passierte nicht viel". Bei den Menschen über 70 ereignete sich hingegen plötzlich allerhand. Ihre Persönlichkeiten veränderten sich in alle möglichen Richtungen. Die Älteren waren auf einmal weniger kontrolliert, lebten impulsiver, oder gewannen an Selbstwertgefühl und innerer Ruhe. Andere wiederum entwickelten sich spät zu "überkontrollierten" Persönlichkeiten.

Die Forscher waren von den wandelbaren Älteren überrascht, auch weil sie bisher nicht wissen, was die Veränderungen auslöst. Sie wissen nur, woran es nicht liegt, nach dem sie den Einfluss verschiedener Faktoren überprüft haben. Die älteren Menschen verändern sich demnach nicht, weil sie in Rente gehen, Großeltern werden, weil ihr langjähriger Partner stirbt oder die Gesundheit nachlässt. "Diese Dinge haben einen Einfluss, aber er ist nicht besonders groß", sagt Jule Specht. Es liege auch nicht an den Genen. Aus der Forschung weiß man, dass genetische Unterschiede im Alter im größeren Maß über die geistigen Fähigkeiten eines Menschen bestimmen, der Einfluss der Umwelt geht zurück.

Die Psychologen wollen nun untersuchen, ob sich die Menschen womöglich verändern, weil sie spüren, dass ihr Tod näher rückt. Untersuchungen zufolge bewerten Menschen, deren Leben zu Ende geht, dieses Leben noch einmal neu bewerten. "Im hohen Alter arbeiten Menschen auch eher an sich, sie versuchen nicht mehr, die anderen zu verändern, sondern sich selbst", sagt Specht. Passen die neuen Eigenschaften besser zu den neuen Lebensumständen im Alter? Wer nicht mehr täglich zur Arbeit muss, kann seine Leistungsfähigkeit zurückfahren. Oder können Ältere bestimmte Dinge, etwa Gewissenhaftigkeit oder Nervosität, nicht mehr aufrecht erhalten, weil ihnen die Kraft dafür fehlt?

Es könne auch sein, dass die Forscher einige Einflussfaktoren einfach noch nicht entdeckt haben – unter anderem, weil sie selbst noch ziemlich jung. Jule Specht ist 27 Jahre alt. Die Psychologen haben deshalb begonnen, Forschungsausflüge in Berliner Altersheime zu unternehmen. Die Menschen dort sollen ihnen erzählen, was es bedeutet, alt zu werden.

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