Menschen tun seltsame Dinge. Sie kaufen sich eine Rolex-Uhr für 10 000 Euro, obwohl sie eine Kopie im Internet für 200 Euro erwerben könnten. 2006 zahlte ein reicher Sammler 140 Millionen Dollar für ein abstraktes Bild des amerikanischen Künstlers Jackson Pollock. Ein relativ leicht nachzuahmendes Werk aus gelben, grauen, schwarzen und braunen Farbspritzern. Wasser in Flaschen, etikettiert mit bekannten Markennamen, ist ein Milliardengeschäft, obwohl das gleiche Produkt aus der Leitung fast gratis ist.
Was steckt hinter diesem Verhalten? Der Psychologe Paul Bloom von der Universität Yale glaubt, eine Ursache gefunden zu haben.
Er denkt, dass der Mensch ein Essenzialist ist. Das heißt, dass wir ein Wesen hinter den Dingen, hinter ihrer Oberfläche vermuten. Eine wahre Natur. Eben eine Essenz. Gelingt es, ihrer habhaft zu werden, verschafft uns das Vergnügen und Genugtuung, sagt Bloom. Deshalb muss es der echte Pollock sein, das Original.
Perrier schmeckt besser, wenn man weiß, dass es Perrier ist
In seinem Buch „How Pleasure Works“ (dt: „Sex und Kunst und Schokolade“, Spektrum Akademischer Verlag) nennt Bloom das Beispiel des Perrier-Chefs von Nordamerika, der in einer Livesendung im Radio sein Mineralwasser unter sieben Sorten erst beim fünften Versuch herausschmeckte. Vermutlich wird er weiterhin denken, dass sein Produkt das beste Flaschenwasser ist. „Perrier schmeckt großartig“, kommentiert Bloom nicht ohne Ironie. „Aber um das wirklich zu würdigen, muss man eben wissen, dass es Perrier ist.“
Essen und Trinken, Liebe und Sex, der Genuss von Literatur und Musik, die Beschäftigung mit Religion und Wissenschaft – bei all diesen Aktivitäten sieht Bloom auch die Lust an der Essenz im Spiel. Wer liebt, wendet sich dem Wesen eines Menschen zu und schätzt diesen nicht (nur) wegen seines Aussehens, seines Einkommens oder seines Intelligenzquotienten. Die genetisch identische Kopie, einen Klon also, würden wir als Ersatz wohl ablehnen. Jeder Mensch hat seine eigene, nicht teil- oder kopierbare Essenz. Der Wissenschaftler hat sein Vergnügen daran, die tiefere Realität jenseits des Oberflächlichen zu ergründen. Und der Gläubige nimmt beim Abendmahl symbolisch den Leib Jesu in sich auf oder verehrt Reliquien, weil an ihnen das „Wesen“ des Heiligen haftet.
Es ist gut denkbar, dass wir Menschen die „Konzentration auf das Wesentliche“ dem evolutionären Erbe verdanken. Für unsere Vorfahren in der afrikanischen Savanne könnte es in vieler Hinsicht lebensrettend gewesen sein, rasch auf „fertige“ Kategorien zurückzugreifen. Etwa das Zucken im Gras mit einer giftigen Schlange zu verknüpfen, das Auftauchen einer Löwenmähne mit akuter Gefahr oder Hufspuren im Schlamm mit einer nahrhaften Antilopenherde. Mit anderen Worten: Das heute zu Recht verpönte Schubladendenken war dereinst überlebenswichtig. Und es verwundert nicht, dass der Psychologe Bloom schon bei kleinen Kindern einen Hang zum Kategorisieren festgestellt hat.
Mit dem Reich der Ideen erschafft Platon eine Welt jenseits der Welt
Der Erste, der die verborgenen Essenzen der Dinge enthüllte, war Platon. Mit seiner Ideenlehre gab der antike griechische Philosoph ihnen ein philosophisches Fundament. Zwar existieren jede Menge Stühle, aber eben auch die „Idee“ des Stuhls, sein Wesen in idealer Form. Platons Welt der Ideen findet sich auch in den Naturwissenschaften wieder, etwa im Periodensystem der Elemente.
Aber Ideen können das Denken auch fesseln. So hat der Harvard-Biologe Ernst Mayr, Übervater der modernen Evolutionstheorie, Platons Vorstellung von unveränderlichen und zeitlosen Wesenheiten als eine der Ursachen dafür ausgemacht, dass Darwins Lehre sich zunächst nur schwer durchsetzen konnte. Auch die Biologen glaubten lange an unwandelbare „Typen“ von Lebewesen. Dass sich Arten wandeln und allmählich neue aus alten entstehen, verstieß gegen Platons Regel. Ein anderes Beispiel für fragwürdiges Festhalten an merkwürdigen Kategorien ist das Einteilen von Menschen in Rassen und Hautfarben. Barack Obama etwa gilt als „schwarz“, obwohl er eine weiße Mutter hat. Manche Schubladen sind nicht nur falsch beschriftet, sondern ganz einfach unnötig.