In jeder Zweierreihe sitzt eine Person - allein. Manche blicken aus dem Fenster, jemand telefoniert leise, einige haben den Sitz neben sich mit Gepäck verstellt. Auf welchen Platz setzen sich Reisende, die in diesen Bus steigen? Sind noch Reihen komplett frei, ist die Antwort leicht: Sie vermeiden, direkt neben jemandem Platz zu nehmen. Gibt es aber nur noch Einzelplätze, entspinnt sich ein Spiel, in dem feine, aber doch klar wahrnehmbare Signale ebenso eine Rolle spielen können wie dreiste Lügen.
Denn bei Reisen per Bus oder Bahn - gerade bei längeren Touren - versuchen Menschen, sich so viel Freiraum wie möglich zu verschaffen. Und falls sie doch eine unbekannte Person auf dem Nebensitz hinnehmen müssen, tun sie alles dafür, dass sich dort jemand setzt, der sie wenig stört und nicht bedrohlich wirkt. Da dürften sich Reisende in einem IC in Deutschland wenig von Busreisenden in den USA unterscheiden, deren Verhalten Esther Kim von der Yale University in New Haven (US-Bundesstaat Connecticut) erforscht hat.
Das Erfrischende an ihrem im Fachmagazin "Symbolic Interaction" veröffentlichten Bericht: Kim hat nicht 30 oder 50 Studenten in ein Labor gebeten, um ihr Verhalten in standardisierten Tests zu untersuchen. Sie hat eine klassische Feldstudie durchgeführt - also binnen zwei Jahren viel, viel Zeit in den Überlandbussen verbracht, die kreuz und quer durch die USA fahren. Jetzt beschreibt sie, welchem informellen Regelwerk die Reisenden bei den Touren folgen.
Kim zählt die Tricks auf, mit denen Reisende arbeiten, damit der Platz neben ihnen frei bleibt. Sie fasst diese und andere Verhaltensweisen - immerhin handelt es sich um einen Fachartikel - unter dem neu geprägten Begriff "nonsocial transient behaviour" zusammen.
- Vermeide Blickkontakt oder starre die neu Zugestiegenen böse an.
- Lehne dich gegen das Fenster und strecke deine Beine über den Nachbarsitz aus.
- Lege eine große Reisetasche oder eine Jacke auf den Platz neben dir. Alternativ kann man auch mehrere Gegenstände stapeln.
- Setze dich auf den Gangplatz, drehe die Musik über Kopfhörer auf und tue so, als würdest du Leute nicht hören, die fragen, ob der Fensterplatz frei ist.
- Gucke mit möglichst leerem Blick aus dem Fenster, damit du verrückt wirkst.
- Stell dich schlafend.
- Wenn das alles nicht funktioniert, lüge einfach, dass der Platz schon besetzt ist.
Bitte nicht müffeln!
Ist der Bus zu voll, um noch allein zu sitzen, ändert sich die Zielsetzung: Nun geht es darum, wer sich neben wen setzt. Kim beschreibt, wie sie selbst auf einer Fahrt neben einem jüngeren, farbigen Mann Platz nahm, weil es keine freie Reihe mehr gab. Sie schlief sofort ein und wachte erst auf, als der Fahrer eine Pause zum Tanken einlegte und alle aussteigen musste.
Soziologin Kim kam mit dem Mann und seinem Mitreisenden - der eine Reihe dahinter gesessen hatte - ins Gespräch und er erklärte, dass er damit gerechnet hatte, dass sie sich neben ihn setzen würde. Er habe nämlich gewollt, dass sie sich setze und sei deshalb etwas mehr Richtung Fenster gerutscht. Ein kleines, aber deutliches Signal, dass der Sitz neben ihm frei war. Warum er wollte, dass sie sich setzte? Weil sie aussah, als sei sie normal - also jemand, der auf der Fahrt nicht die ganze Zeit redet, nicht schlecht riecht und nicht irgendwie verrückt ist.
Das fasse die wichtigsten Entscheidungskriterien gut zusammen, so die Forscherin. Merkmale, die sonst eine Rolle spielen können - Geschlecht und Hautfarbe beispielsweise, seien nach unzähligen Stunden im Bus dagegen unwichtig.
Da es in US-Überlandbussen immer wieder Gewalttaten gab, ist die Angst vor gefährlichen Mitreisenden eine verständliche Triebfeder für die beobachteten Verhaltensmuster. Die Menschen wollen nicht nur ungestört ihr Ziel erreichen, sondern auch unversehrt.
Daher stellt Kim am Ende auch klar, dass es nicht darum ging zu erforschen, warum Menschen nicht sozialer agieren. Eine Kombination aus der Tatsache, dass man nur auf der Durchreise ist, Angst und möglicher Gefahr, Enge, fehlender Privatsphäre und körperlicher Erschöpfung durch die langen Touren führe dazu, dass sich die Menschen aktiv von anderen abwenden.
Manchmal kann diese Form des Nicht-Einmischens sogar positiv sein, beschreibt die Forscherin in einem Beispiel. Während normalerweise lautes Telefonieren in den Bussen mit der wütend gezischten Aufforderung, doch still zu sein, quittiert werde, ließen alle Reisenden eine Jugendliche in aller Ruhe telefonieren. Bis dahin leise geführte Gespräche hörten sogar auf, als das Mädchen am Telefon offensichtlich ihren Vater davon überzeugen musste, dass sie den ersten Bus knapp verpasst und dann viele Stunden im Regen auf den verspäteten zweiten hatte warten müssen.
Jeder, der häufiger mit diesen Bussen fahre, könne mitfühlen, wie es ist, lange auf die oft verspäteten Fahrzeuge zu warten, schreibt Kim. "Das Unglück des Mädchens weckte eine Art stille Unterstützung."