Grund dafür seien neue soziale Dynamiken im Internet und in Schulen, sagen Experten
Innsbruck – Das Mittelalter war kein Kindergeburtstag. "In England starben zu dieser Zeit noch die meisten Menschen durch Gewalt, wurden getötet", sagt Peter Fonagy, Professor für Psychologie am University College London sowie Direktor des Anna-Freud-Zentrums. Und fügt an: "In den westlichen Gesellschaften hat Gewalt somit massiv abgenommen in den vergangenen Jahrhunderten. Das liegt an der sozialen Infrastruktur, die wir geschaffen haben."
Diese gesellschaftlichen Strukturen hätten aber nicht zwangsläufig Einfluss auf das eigene Aggressionspotenzial. "Was zunimmt, ist die Bereitschaft, sich selbst zu verletzen, vor allem unter Jugendlichen", erklärt Fonagy im Gespräch mit dem STANDARD.
Das erlebt auch Kathrin Sevecke, Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Innsbruck, in ihrem beruflichen Alltag: "Autoaggression nimmt zu, die Empathiefähigkeit nimmt ab, doch gerade für Adoleszen- te gibt es derzeit in Österreich noch nicht ausreichend und kei- ne spezifischen Therapiemöglichkeiten."
Jugend "schlecht geschützt"
Der Grund für die Wut auf sich selbst: Unsere Gesellschaft habe sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert, die menschliche Psyche habe sich an diesen Wandel aber noch nicht anpassen können. Sozialer Ausschluss passiert heute bekanntlich nicht mehr bloß im Klassenzimmer, sondern auch im weltweiten Internet, Familien würden seltener gemeinsam Zeit verbringen wie etwa beim Abendessen, hinzu komme: "Durch unser Schulsystem sind Jugendliche die meiste Zeit von Jugendlichen umgeben und somit hauptsächlich von anderen, die sich auch in einer Phase des Umbruchs und der noch andauernden Gehirnreifung befinden", sagt Fonagy.
Das alles führe dazu, dass junge Menschen in der sensiblen Phase der Pubertät oftmals "schlecht geschützt" seien. Während die meisten Menschen Gewalt gegen andere zu regulieren gelernt hätten, nehme Autoaggressivität immer neue Formen an. Mädchen würden dazu tendieren, ihre Haut zu verletzen oder Essstörungen zu entwickeln, die Wut von jungen Männern würde hingegen eher durch Extremsport, Tätowierungen oder Branding kompensiert.
Psychischer Schmerz
"Soziale Exklusion wird nachweislich ähnlich empfunden wie physischer Schmerz", sagt Fonagy. Der britische Wissenschafter gilt als einer der Begründer der sogenannten "mentalisierungsbasierten Therapie", die nun an der Medizinischen Universität Innsbruck und der Universität Klagenfurt im Rahmen einer Pilotstudie getestet werden soll.
"Im Zentrum stehen die Gefühlszustände der Jugendlichen. Durch die neue Gesprächstherapie sollen sie lernen, ihre Emotionen wieder besser zu verstehen und dann zu regulieren", sagt Sevecke. Für die Studie wird an der Klinik in Innsbruck über die kommenden zwei Jahre mit 20 bis 30 Jugendlichen gearbeitet werden. Die Erwartungen sind jedenfalls hoch: "Bei allen bisherigen Therapien ist die Drop-out-Rate enorm." (Katharina Mittelstaedt, 31.7.2015)